Bereits im letzten Jahr durfte ich an dieser Stelle auf den eklatanten Personalbedarf im öffentlichen Verkehrswesen hinweisen – ich nannte ihn die größte Herausforderung für die Branche. Diese wird sich im Laufe der kommenden Jahre weiter verschärfen. Nur über eine höhere Erwerbsbeteiligung von Älteren und Frauen sowie eine deutlich gesteigerte Zuwanderung werden sich benötigte Stellen zukünftig besetzen lassen.
Im Zuge des demografischen Wandels werden bis 2030 mindestens 80.000 Beschäftigte aus dem Fahrdienst in den Ruhestand gehen, auch hat sich längst der viel beschworene Fachkräftemangel in einen Arbeitskräftemangel ausgewachsen, da nicht nur Fachkräfte, sondern auch Expert*innen und Spezialist*innen auf dem Arbeitsmarkt immer schwerer anzuwerben sind.
Zugleich zeigt sich in der Branche der Trend, dass aufgrund veränderter Einstellungen zu Erwerbsarbeit und Work-Life-Balance der Arbeitnehmer*innen der Wunsch nach Arbeitszeitverkürzung zunimmt und die betriebliche Fluktuation spürbar steigt – und das in einer Branche, die lange Betriebszugehörigkeiten gewöhnt ist.
Kurzum: Es muss sich einiges bewegen, um den Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt zu begegnen. Weiterhin ist der Druck im Fahrdienstbereich am größten, wo jedes Jahr mindestens 8.000 Beschäftigte neu eingestellt werden müssen – die dann natürlich auch langfristig gebunden werden müssen. Da der heimische Arbeitsmarkt für diesen immensen Bedarf nicht ausreicht, organisiert der VDV systematisch die Zuwanderung von Fahrdienstpersonal. Die Novelle des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes ist da ein Schritt in die richtige Richtung.
Zuwanderung und Integration als gesellschaftliche Großaufgabe
Um innerhalb der Branche benötigtes Personal in adäquater Zahl rekrutieren zu können, setzt der VDV auf zentrale Personalgewinnung im Ausland und prüft derzeit die Einrichtung von Fahr- und Sprachschulen in geeigneten sog. Drittstaaten, um in großer Zahl Personal für die Branche zu gewinnen. Neben kulturellen, ökonomischen und demografischen Gesichtspunkten sind auch rechtliche Vorgaben auf den Prüfstein zu stellen. Leider können etwa nach geltender Rechtslage die Führerscheinprüfung sowie die medizinische Eignungsprüfung für Fahrpersonal nicht ohne Weiteres im Nicht-EU-Ausland erfolgen – hier arbeiten wir auf sinnvolle Änderungen der Gesetze hin, um die „Fachkräftestrategie“ der Bundesregierung perspektivisch auch mit Leben füllen zu können.
Neben der Anwerbung und Ausbildung vor Ort stellt die Integration in Deutschland einen weiteren wichtigen Baustein für die strategische Arbeitskräftegewinnung dar. Die Arbeitgeberinitiative des VDV erarbeitet derzeit in Kooperation mit der SocialBee gGmbH in Musterbetrieben Konzepte für die nachhaltige Integration von zugewanderten Arbeitskräften vor Ort. Neben Hilfestellungen bei deutschen Behördengängen und bürokratischen Anforderungen setzen wir zum Gelingen der Integration auf einen holistischen Ansatz, da Zugewanderte nicht isoliert „nur“ Arbeitskraft sind, sondern zumeist auch eine Familie haben, private Interessen verfolgen und individuelle Persönlichkeiten sind. Das heißt, dass Familiennachzug, gesellschaftliche Teilhabe und soziale Einbindung wesentlich von Beginn an mitgedacht werden müssen. Das kann die Branche freilich nicht allein schaffen, da ist die gesamte Gesellschaft gefordert, daher arbeitet der VDV aktiv an übergreifenden Allianzen.
Aufbau und Weiterentwicklung zukunftsfähiger Kompetenzen
Zusätzlich zur Anwerbung und nachhaltigen Integration vieler neuer Arbeitskräfte drängt die fortschreitende Digitalisierung aller Lebensbereiche zur kontinuierlichen Weiterentwicklung der Kompetenzen bestehender Personale. ChatGPT und der Einsatz generativer KI haben als Trendthemen 2023 auch die öffentliche Verkehrsbranche beschäftigt, das Potenzial zur radikalen Veränderung bestimmter Berufsfelder ist bereits abzusehen. Hier muss sich die Branche, etwa über die VDV-Akademie, mit zukunftsträchtigen Berufen und benötigten Kompetenzen auseinandersetzen sowie Programme konzipieren, um Bestandsmitarbeitende kontinuierlich adäquat zu qualifizieren.
Über Projekte wie NetÖV oder Train-Station entstehen Netzwerke für digitales Lernen, um Bildungsanbieter, -inhalte und -bedarfe innerhalb der Branche passgenau zueinander zu bringen sowie Erfahrungen auszutauschen. Ausgehend vom EU-geförderten STAFFER-Projekt, das zukünftig erforderliche Kompetenzen im Bahnbereich identifizierte, arbeitet der VDV gemeinsam mit den Sozialpartnern daran, auch für andere Bereiche der Branche zukünftig benötigte Kompetenzen sowie Wege zu deren Sicherstellung zu ermitteln. Auch wenn das aufgerufene ‚European Year of Skills‘ 2023 endete, wird das Thema uns langfristig begleiten.
Im Zuge dessen will die VDV-Akademie auch die Ausbildung von Triebfahrzeugführenden, insbesondere mit Blick auf den Regionalverkehr, angehen und zu Beginn an einem zentralen Standort in NRW regional bündeln. In dem NRW-geförderten Verbundprojekt sollen einheitliche Qualifikationen und Standards in der Ausbildung sichergestellt und durch Zentralisierung größere Skaleneffekte erzielt werden, um auch dem Personalbedarf im Schienenbereich begegnen zu können. Mit der gebündelten Ausbildung werden wir auch flexibler und zielgerichteter auf potenzielle Veränderungen im Berufsbild reagieren können. Spannend ist dabei, ob sich auch in anderen Bundesländern entsprechende Aktivitäten entwickeln werden.
Finanzierung als Flaschenhals
Bei all den Vorhaben und vielen weiteren Anstrengungen, die etwa bei der Entwicklung von Teilzeitmodellen, dem Ausbau des Arbeitgebermarketings oder der Umstellung auf Klimaneutralität – insbesondere im Bus-Bereich – noch notwendig sind, darf der limitierende Faktor nicht übersehen werden: die Finanzierung.
Während das Deutschland-Ticket einerseits die Attraktivität des ÖPNV für die Bürger*innen erhöhte (Evelyn Palla spricht in „Deine Bahn“ 2/2024 von 20 Prozent mehr Fahrgästen), führte die Einführung andererseits zu spürbaren finanziellen Verlusten für viele Verkehrsunternehmen, da das Preisniveau von 49 Euro teilweise deutlich unter dem billigsten Verbundtarif lag. Der Kostendeckungsgrad von ÖPNV-Unternehmen, d. h. der Anteil an Kosten, der durch Ticketerlöse selbst gedeckt werden kann, droht erstmals unter die 50-Prozent-Marke zu rutschen.
Daraus folgt die politische Aufgabe, eine auskömmliche, solide Finanzierung zu ermöglichen, um qualitativ hochwertigen Verkehr und attraktive Ticketpreise anbieten zu können. Leider zeigte sich im Hick-Hack um die Finanzierung des ÖPNV über 2023 hinaus bereits wenig politischer Wille, auch die vom Bundesverkehrsministerium beschlossenen Kürzungen im Schienenverkehr gehen in die völlig falsche Richtung. Angesichts der prekären Lage mancher Schienen-infrastruktur und der sich zuspitzenden Arbeitsmarktsituation kann die Devise nicht „kürzen“, sondern „investieren“ lauten!
Wir brauchen eine üppige, langfristige Finanzierungsoffensive für das ÖPNV-System, um belastbare Infrastruktur und gutes Personal für ein System zu sichern, von dem wir alle tagtäglich profitieren. Nur so können wir die Klimawende schaffen und eine lebenswerte Gesellschaft für nachkommende Generationen hinterlassen. Gemeinsam mit den Sozialpartnern und der Kommunalpolitik wollen wir als VDV dieses Jahr das Thema weiter nach oben auf die politische Agenda hieven. Setzen auch Sie sich dafür ein, wenn Ihnen der öffentliche Verkehr am Herzen liegt!
Vorausschauend agieren, statt reagieren
Wir leben in Arbeitsmarkt und Gesellschaft in dynamischen Zeiten. Darauf müssen wir als Branche laufend Antworten entwickeln und zügig auf sich wandelnde Herausforderungen reagieren. Und im Idealfall reagieren wir nicht nur, sondern agieren zukunftsgewandt und vorausschauend – und können damit auch über die Branche hinaus positiv richtungsweisend sein.
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