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EBL-Kongress von DB Training

System Bahn in Deutschland ächzt unter Überkomplexität

Foto: Philipp von Recklinghausen
Foto: Philipp von Recklinghausen

Auf dem 20. Kongress für Eisenbahnbetriebsleiter*innen (EBL) und Sicherheitsmanager*innen Mitte November legte Veranstalter DB Training, Learning & Consulting den inhaltlichen Schwerpunkt auf psychologische Themen in Arbeitsschutz und Prävention. Kurz vor Abschluss der Bauarbeiten auf der Riedbahn diskutierten die Experten aber auch über die strukturellen Mängel im System Bahn und darüber, was es braucht, um diese zu beheben.

Bereits zum 20. Mal veranstaltete DB Training, Learning & Consulting, der Qualifizierungs- und Beratungsdienstleister der Deutschen Bahn AG, seinen EBL-Kongress. Und längst schon – wie Sylke Schmidt, Initiatorin und Organisatorin der ersten Stunde, bei ihrer Begrüßung feststellte – hat sich dieses Format als wichtige Netzwerk- und Expertenplattform der Bahnbranche etabliert. Zum Jubiläum kehrte die Veranstaltung (fast) an den Ort des allerersten EBL-Kongresses zurück: nach Radebeul nahe Dresden.

Moderiert von Thomas Hösterey, bot DB Training auf dem Kongress in der Karl-May-Stadt den rund 170 anwesenden Bahn-Expert*innen ein reichhaltiges Fachprogramm, das mit einer Sonderfahrt des advanced TrainLab von Halle/Saale über Leipzig nach Radebeul am Vorabend begann und mit drei Exkursionen nach Kongressende (wahlweise Besuch beim THW Ortsverband, Besichtigung des Binnenhafens oder der Straßenbahnwerkstatt Gorbitz) seinen Abschluss fand. Das Fachprogramm stand dabei auch Online-Teilnehmenden offen.

Komplexität als Problem I

Unter dem Motto „Weiterentwicklung des Bahnsystems“ gebührte es Hans-Peter Lang, die Keynote des EBL-Kongresses zu halten. Der ehemalige Geschäftsführer von DB Systemtechnik organisiert gegenwärtig die Einrichtung einer neutralen Koordinierungsstelle für die Umrüstung von Schienenfahrzeugen mit dem Zugbeeinflussungssystem European Train Control System (ETCS) und stellte das Vorhaben in einen weiter gefassten Kontext.

Dass derzeit eine jahrzehntelange Unterfinanzierung des deutschen Schienennetzes auf eine erhöhte Nachfrage treffe, habe verdeutlicht, dass die Infrastruktur nicht den Anforderungen entspreche. Tatsache sei aber auch, dass sich Deutschland „eine einmalige strukturelle Komplexität“ im System Bahn leiste. Bei den Themen Fahrzeugtypen und -einsatz habe dies zu einer technischen Vielschichtigkeit geführt, die – ähnlich wie bei der Digitalen Automatischen Kupplung (DAK) – nicht von einzelnen Unternehmen, sondern nur branchenübergreifend zu bewerkstelligen sei, lautete die Einschätzung des Technik-Experten.

Was die Umrüstung der Fahrzeuge angehe, sei mit der Novellierung des Schienenwegeausbaugesetzes eine staatliche Förderung inzwischen möglich. Eine Studie der Unternehmensberatung McKinsey habe darüber hinaus gezeigt, dass eine zentrale, vom Bund finanzierte Koordinierungsstelle für die ETCS-Umrüstungen von Fahrzeugen Kosteneinsparpotenziale zwischen 2 und 3 Milliarden Euro verspreche, warb Lang für sein Projekt.

Insgesamt, so Lang, fehlten dem System ein einvernehmlicher und durchfinanzierter Entwicklungsplan und ein realistisches Zielbild: Das Ziel der Digitalen Schiene Deutschland (DSD) werde auf absehbare Zeit nicht umsetzbar sein. Stattdessen brauche das System Bahn in Deutschland eine realistische Priorisierung, einen Rolloutplan und Finanzierungssicherheit. Der Markt löse das Problem nicht von allein, stattdessen sei eine konsequente Einführung von Innovationen in das System vonnöten, fand Lang klare Worte.

Insbesondere seine Ausführungen zur Komplexität sollte DB Infrastruktur-Chef Philipp Nagl in seinem, den zweiten Kongresstag abschließenden Vortrag aufgreifen, in dem er auf die Herausforderungen einging, vor der die DB bei der Modernisierung ihrer Infrastruktur steht (siehe weiter unten).

Hält das System Bahn für zu komplex: Hans-Peter Lang
Hält das System Bahn für zu komplex: Hans-Peter Lang (Foto: Philipp von Recklinghausen)

MOF mit Potenzial

Der erste Kongresstag mündete nach dieser Keynote in einen thematischen Block, der den Schwerpunkt auf psychologische Themen in Arbeitsschutz und Prävention legte – und dabei insbesondere auf die sogenannten Menschlich-Organisatorischen Faktoren (MOF) einging.

Spätestens mit dem 4. Eisenbahnpaket der Europäischen Union sind MOF ein zentrales Thema für das System Bahn: 80 Prozent aller sicherheitsrelevanten Ereignisse im System sind auf menschliches Fehlverhalten zurückzuführen. Mehr Technik muss also nicht unbedingt mehr Sicherheit bedeuten, sondern es kommt auf das Miteinander der Mitarbeitenden, die Art der Kommunikation und gegenseitiges Vertrauen an. Das macht das Thema MOF so elementar für die Sicherheit im System Bahn.

Professor Dr. phil. habil. Oliver Sträter verwies in seinem Vortrag zu „Sicherheit in agilen Zeiten“ auf das große Potenzial von MOF-Faktoren, durch die systematische Analyse von individuellen Ereignisursachen wichtige Erkenntnisse zu gewinnen. Sträter unterstrich dabei die Bedeutung der Kommunikationskultur im Unternehmen: Von zentraler Bedeutung sei es, die betrieblichen Wissensträger für die Ausgestaltung der Sicherheitsstrukturen in den Unternehmen zu gewinnen. Auf Nachfrage aus dem Publikum, wie es möglich sei, eine Unternehmenskultur des Überwachens und Überprüfens in eine Vertrauenskultur zu verwandeln, räumte der Wissenschaftler ein, dass die Entwicklung einer entsprechenden Sicherheitskultur noch ausstehe und es Jahre brauchen werde, um die Unternehmensstrukturen dahingehend anzupassen.

Verhaltensbeeinflussung I

Wie eingeschliffene Verhaltensweisen von betrieblichen Personalen verändert werden können, um ein Plus an Sicherheit zu gewinnen, veranschaulichte Markus Lorenz, EBL bei DB Regio, in seinem Vortrag anhand einer Kollision zweier Regionalzüge. Der Triebfahrzeugführer (Tf) eines der beiden Züge hatte das Signal Hp0 übersehen, woraufhin eine Zwangsbremsung erfolgte (Wahrnehmungsfehler). Danach zog er inkorrekte Schlüsse (Verarbeitungsfehler) und fuhr weiter, ohne sich mit dem Fahrdienstleiter (Fdl) zu verständigen (Ausführungsfehler). Grund für diese Fehlerkette waren Erfahrungswerte – im Fachjargon „Framing“ genannt: Der Tf ging aufgrund geschlossener Bahnschranken von der Zustimmung des Fdl zur Weiterfahrt aus.

DB Regio begann in der Folge dieses Zwischenfalls damit, Zwangsbremsungen systematisch auszuwerten, um die betrieblichen Regeln ggf. so anzupassen, dass Fehlhandlungen von Tf nach Zwangsbremsungen reduziert werden. Lorenz berichtete von insgesamt 90.000 dokumentierten Zwangsbremsungen bei DB Regio im Jahr 2023, von denen 374 aufgrund von Signalverfehlungen zustande kamen und die 50 Unfälle nach sich zogen – wobei die Dunkelziffer an Zwangsbremsungen durchaus höher liegen könne, wie der EBL auf Nachfrage aus dem Publikum einräumte.

Das Ergebnis der Untersuchung: DB Regio führte verpflichtend das Anhalten und Ausfüllen einer so genannten Zwangsbremsmeldung ein. Mit dieser einfachen Anweisung bzw. Heuristik werde der Tf aus seine Handlungsroutine gerissen und zur Reflektion seiner Vorgehensweise gebracht, erklärte Lorenz.

Grundsätzlich sei es wichtig für die Qualität solcher Auswertungen, dass Vorfälle von den Verursachenden auch gemeldet werden, ohne dass diese eine Bestrafung befürchten müssen. Voraussetzung dafür sei eine Vertrauenskultur im Unternehmen, die Betroffene als Wissensträger und nicht als Schuldige betrachte: „Wir können unsere Kollegen zwar nicht vor strafrechtlichen Untersuchungen schützen, aber wir können entscheiden, wie wir mit unseren Wissensträgern umgehen“, warb Lorenz für Veränderungen der Unternehmenskultur.

Verhaltensbeeinflussung II

Dass negative Sanktionierungen keine nachhaltigen Verhaltensveränderungen bewirken, unterstrichen Judith Treiber (Unfallversicherung Bund und Bahn) und Nele Gardner (DB Fernverkehr) in ihrem Vortrag zum Thema „Der Faktor Psyche im Arbeitsschutz – wie sicheres Verhalten gestärkt werden kann“.

Die Methodik des Verhaltensorientierten Arbeitsschutzes (VOA) bzw. Behaviour Based Safety (BBS) basiere auf positivem Feedback für die Mitarbeitenden, um ihr Verhalten positiv zu beeinflussen: Sicheres Verhalten werde definiert, die Mitarbeitenden in den Unternehmen daraufhin beobachtet und ein entsprechendes Feedback gegeben, um sicheres Verhalten positiv zu verstärken, skizzierten Treiber und Gardner den VOA- bzw. BBS-Ansatz.

Eisenbahnrecht

Markus Ring bot im Anschluss daran eine aktuelle Übersicht zu den Entwicklungen des Eisenbahnrechts. Der VDV-Syndikusrechtsanwalt sprach unter anderem über Veränderungen im Schienenlärmschutzgesetz (siehe auch den Beitrag in der vorliegenden Ausgabe ab Seite 18) und über den rechtlichen Status von Fachmitteilungen des Eisenbahn-Bundesamtes (EBA), die, so Ring, rechtlich zwar nicht bindend seien, im Falle eines Ereignisses die Betroffenen aber unter einen „erhöhten juristischen Rechtfertigungsdruck“ gerieten.

Ring ging auch kurz auf das viel diskutierte Cannabisgesetz (CanG) ein und führte an, dass es in der deutschen Bahnbranche im Gegensatz zum Straßenverkehr für den Konsum vom Cannabis keine festgesetzten Grenzwerte gebe. Deshalb könne der Cannabis-Konsum von Mitarbeitern im sicherheitsrelevanten Bereich nur gänzlich ausgeschlossen werden, resümierte Ring.

Cannabis im Fokus

Dr. med. Anika Brea Salvago und Ute Ruprecht von der Deutschen Bahn AG knüpften an diese Thematik in ihrem Vortrag an, in dem anhand von CanG aus arbeitsmedizinischer Sicht ganzheitliche Präventionsmaßnahmen thematisiert wurden, die sowohl physische als auch psychische Faktoren berücksichtigen.

Die Arbeitsmedizinerin und leitende Bahnärztin Brea Salvago machte dabei deutlich, dass – wie beim Alkohol auch – berufliche Tätigkeiten und Konsum einander ausschließen müssen und die DB – im Gegensatz zu anderen Ländern wie der Niederlande oder der Schweiz – gegenwärtig nicht plane, Unbedenklichkeits-Grenzwerte für Cannabis konsumierende Mitarbeitende einzuführen (siehe dazu auch den Beitrag in der vorliegenden Ausgabe ab Seite 31).

Die anschließende Podiumsdiskussion veranschaulichte, dass die Branche bei diesem Thema am Anfang steht und bislang noch zu wenige Fälle aufgetreten sind, aus denen sich notwendige Maßnahmen ableiten ließen. So sieht die sächsische Polizei derzeit keinen erhöhten Handlungsbedarf, und ein Sprecher der ODEG sagte, es sei klar, dass Cannabis-Konsum während der Arbeit verboten sei und es grundsätzlich Tausende von Mitarbeitenden in sicherheitsrelevanten Bereichen gebe, die ihre Arbeit gewissenhaft verrichteten – insofern gebe es keinen Grund, die Lage zu dramatisieren.

Thema Fahrzeuge

Am zweiten Kongresstag lag der inhaltliche Schwerpunkt zunächst auf dem Thema Schienenfahrzeuge: Dr.-Ing. Jörg Mai von der ERC.Rail GmbH referierte über „Fahrzeugänderungen aus Zulassungssicht im 4. Eisenbahnpaket“ und stellte den Teilnehmenden dabei die einzelnen Schritte in der nationalen wie internationalen Typengenehmigung von Schienenfahrzeugen vor. Unter dem Strich sorgten die EU-Vorgaben dazu, dass die Umrüster und Betreiber mehr Verantwortung trügen für den Zulassungsprozess als zuvor. Dabei sei es eine Herausforderung, die notwendige Fachexpertise mit den prozessualen und juristischen Anforderungen zusammen zu bringen, sagte Mai.

In zwei weiteren, parallellaufenden Vorträgen informierte Avid Ehrlich von der DB Fahrzeuginstandhaltung über den Stand der 3D-Druckverfahren zur Herstellung von Ersatzteilen für Schienenfahrzeuge. Sein Kollege Richard Walther fasste zusammen mit Nicolas Wagner von Siemens Mobility die Erkenntnisse zusammen, die aus der ETCS-Integration eines Fahrzeugs des Baureihe 101 gewonnen werden konnten.

Wurde per Videobotschaft direkt von der Riedbahn-Baustelle zugeschaltet: Philipp Nagl
Wurde per Videobotschaft direkt von der Riedbahn-Baustelle zugeschaltet: Philipp Nagl (Foto: Philipp von Recklinghausen)

Komplexität als Problem II

Für den abschließenden Vortrag des zweiten Kongresstages hatte DB Training Dr. Philipp Nagl gewinnen können. Der DB-Infrastrukturchef knüpfte nahtlos an die Keynote Hans-Peter Langs an und stellte das Thema Komplexität in das Zentrum seiner Ausführungen.

Zum Zeitpunkt des Kongresses stand der DB-Konzern kurz vor dem Abschluss der Bauarbeiten auf der Riedbahn, und so weilte Nagl dort vor Ort und konnte aus Zeitgründen lediglich per Videobotschaft sein Wort an die Teilnehmenden richten. Dabei wurde deutlich, dass Nagl die Herausforderung überbordender Komplexität in der gesamten Branche sieht: Über die Hälfte aller ETCS-Expert*innen der Firma Siemens weltweit würden derzeit auf der Riedbahn-Baustelle eingesetzt, deren Länge gerade einmal 70 Kilometer betrage. Das könne nur bedeuten, dass die Fachleute entlastet werden müssten und man von einer Prüfung in Individualverantwortung in Richtung Allgemein- und Organisationverantwortung gelangen müsse, unterstrich Nagl.

Neben der Leistungsfähigkeit der Industrie seien auch zu wenige Fdl und veraltete Stellwerke ein Hindernis auf dem Weg zu einem leistungsfähigeren Schienennetz. Deshalb wolle die DB InfraGO AG in Zukunft darauf verzichten, Strecken mit mehreren Zugsicherungssystemen auszurüsten. Auch die fehlende finanzielle Planungssicherheit für die Infrastrukturfinanzierung sei ein Problem, das mitunter allein durch Vorfinanzierungen durch den integrierten Konzern abgefedert werden könne. Dessen Existenz sei deshalb ein Segen, unterstrich Nagl.

Unter dem Strich bleibe die Erkenntnis, dass die Komplexität des Systems Bahn in Deutschland unbedingt reduziert werden müsse. Dies zeige sich nicht zuletzt beim umstrittenen Trassenpreissystem, das eine Folge der Trennung von Netz und Betrieb sei: Das System sei der Branche aber inzwischen entglitten, und die Kosten seien explodiert, obwohl die DB InfraGO AG in all den Jahren die Preise lediglich der Inflationsrate angepasst habe, sagte Nagl.

Fazit

Sylke Schmidt zeigte sich zufrieden mit dem Jubiläumskongress, ließ die vergangenen 20 Veranstaltungen noch einmal Revue passieren und dankte ihrem Team und langjährigen Weggefährten für ihre Unterstützung. Nach dem ersten Kongress in Fulda mit 52 Teilnehmenden habe sich dieses Format schnell etabliert und habe an weiteren 16 Veranstaltungsorten über 1.000 Teilnehmende angelockt, bilanzierte Schmidt.

Dass es auch in Zukunft weitergeht, ist deshalb auch gar keine Frage: Der nächste EBL-Kongress von DB Training wird am 9. und 10. September 2025 in Hamburg stattfinden.


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