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Aus Ereignissen lernen

Sicherheitsempfehlungen der BEU nach dem Unfall von Bad Aibling

halt zeigendes Bahnsignal
„Halt“ – Lichtsignal zeigt „Hp 0“ (Foto: DB AG/Volker Emersleben)

Mit dem Sicherheitsbericht für 2017 und dem Untersuchungsbericht des Zugzusammenstoßes zwischen Bad Aibling und Kolbermoor vom 9. Februar 2016 publizierte die Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung im letzten Jahr zwei wichtige Dokumente, aus denen sich wertvolle Erkenntnisse zur Verbesserung der Betriebssicherheit ableiten lassen. In diesem Beitrag wird speziell auf die Sicherheitsempfehlungen als Ergebnis der Untersuchung des Unfalls von Bad Aibling eingegangen.

„Der Grundsatz, dass die Sicherheit Vorrang vor der Betriebsqualität hat, darf nicht aufgeweicht werden“

Die Eisenbahn ist unbestritten das mit Abstand sicherste Landverkehrsmittel. Die aktuelle Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Situation der Deutschen Bahn, durch die sich inzwischen selbst die Bundesregierung zum Handeln veranlasst sieht, ist auch nicht auf Sicherheitsmängel, sondern auf die seit Jahren zunehmenden Probleme bei der Betriebsqualität zurückzuführen.

So richtig und wichtig es ist, in dieser Frage jetzt massiv gegenzusteuern, so darf dabei aber die Betriebssicherheit nicht aus den Augen verloren werden. Der Druck, kurzfristig Verbesserungen für die Kunden zu bewirken, birgt hier durchaus Risiken. Zwar hat sich die Zahl signifikanter Unfälle seit der Bahnreform 1994 nahezu halbiert. Laut dem gerade erschienenen Sicherheitsbericht der Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung (BEU) für das Jahr 2017 haben die gefährlichen Ereignisse gegenüber 2016 aber um reichlich 10 Prozent zugenommen.[1] Das ist, wenn auch noch nicht dramatisch, zumindest ein deutliches Warnsignal, das man ernst nehmen muss, um rechtzeitig gegenzusteuern.

Durch das zurzeit vordergründige Ziel, die Pünktlichkeit zu verbessern, wird mitunter Kritik an Rückfallebenen geübt, die die Leistungsfähigkeit im Störungsfall angeblich durch überzogene Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz vor Fehlhandlungen des Betriebspersonals unnötig einschränken würden. Wenn sich die für seltene Ausnahmesituationen gedachten Rückfallebenen tatsächlich spürbar auf die Betriebsqualität auswirken sollten, dann sind jedoch nicht die Rückfallebenen das Problem, sondern die viel zu häufig auftretenden Störungen.

Der Grundsatz, dass die Sicherheit in jedem Fall Vorrang vor der Betriebsqualität haben muss, darf keinesfalls aufgeweicht werden. Die von der BEU als Ergebnis der Untersuchung von Eisenbahnunfällen erlassenen Sicherheitsempfehlungen liefern dafür wichtige Erkenntnisse.

Das Ereignis von Bad Aibling

Zunächst soll noch einmal auf den Zugzusammenstoß zwischen Bad Aibling und Kolbermoor vom 9. Februar 2016 eingegangen werden, für den kürzlich der Untersuchungsbericht publiziert wurde.[2] Zum Zusammenstoß kam es, weil der Fahrdienstleiter, als sich das Ausfahrsignal in Bad Aibling nicht auf Fahrt stellen ließ, die Zugfahrt ohne korrekte Einzelräumungsprüfung durch Zs 1 zuließ, dabei jedoch aufgrund der ablenkungsbedingten Fehleinschätzung der Situation eine Gegenfahrt auf dem eingleisigen Strecken­abschnitt übersah, die er selbst zuvor zugelassen hatte und welche die Signalfahrtstellung verhinderte.

Die strafrechtliche Aufarbeitung fokussierte sich seinerzeit einseitig auf die Ablenkung des Fahrdienstleiters durch ein Onlinespiel auf dem Smartphone. Diese Ablenkung war zweifelsohne gegeben, ist aber als alleinige Erklärung für das komplexe Geschehen nicht hinreichend.

Warum es dazu kam, dass alle im System vorhandenen Sicherheitsbarrieren wirkungslos blieben, die es dem Fahrdienstleiter ermöglicht hätten, seinen Irrtum zu erkennen und den Unfall noch abzuwenden, war zwar Gegenstand entsprechender Ausführungen von Sachverständigen. Vom Gericht wurden diese Faktoren jedoch kaum gewürdigt, erstaunlicherweise betraf das auch die Verteidigung. Der Untersuchungsbericht der BEU wirft jetzt ein anderes Licht auf diesen Unfall.

Weitgehend zerstörter Regionalzug nach einem Unfall bei Bad Aibling
Die Unfallstelle auf der Strecke zwischen Bad Aibling und Kolbermoor nach dem Zusammenstoß zweier Meridian-Nahverkehrszüge der Bayerischen Oberlandbahn im Februar 2016 (Foto: DB AG/Achim Stauß)

Die Sicherheitsempfehlungen der BEU

Als Ergebnis des Untersuchungsberichts wurden von der BEU sechs Sicherheitsempfehlungen ausgesprochen, deren Hintergrund hier näher beleuchtet wird. Die ersten fünf Sicherheitsempfehlungen betrachten, ausgehend vom Unfalleintritt, die Abfolge rückwärts bis zum Anfang der Ereigniskette.

1. Sicherheitsempfehlung

„Es wird empfohlen, den „Zugfunknotruf“ und den „Notruf-Strecke“ im Auswahlmenü des GeFo nach Betätigung der Taste Notruf beim Fdl in einer Funk­tionstaste zusammenzuführen.“

Der Fahrdienstleiter (Fdl) hatte nach Erkennen seines Irrtums versucht, den Unfall durch einen Notruf an die beteiligten Züge abzuwenden. Dazu benutzte er am GeFo (GSM-R-Fernsprechbedienteil für ortsfeste Teilnehmer) die Taste „Notruf-Strecke“ im Glauben, dass dieser Notruf an die auf der Strecke befindlichen Züge geht. Dies war jedoch nicht der Fall, tatsächlich geht der „Notruf-Strecke“ nur an fahrwegseitiges Personal an der Strecke. Für die Züge muss der separate „Zugfunknotruf“ verwendet werden. Dadurch lief der Notruf ins Leere.

Dieses nicht sicherheitsgerechte Systemdesign wird von der BEU zu Recht kritisiert. Beim Absetzen eines Notrufs können Sekunden darüber entscheiden, ob es noch gelingt, den Unfall abzuwenden. Durch das Erfordernis, sich in einer solchen Situation unter großer psychischer Anspannung zwischen mehreren Tasten entscheiden zu müssen, deren Beschriftung zudem Missverständnisse nicht ausschließt, kann wertvolle Zeit verloren gehen oder, wie hier geschehen, das Absetzen des Notrufs scheitern.

2. Sicherheitsempfehlung

„Hinsichtlich der Nachrüstung der Erlaubnisabhängigkeit bei Zb 65 ohne Selbstblockstreckengruppe wird empfohlen, das einschlägige Regelwerk gesamthaft zu überprüfen und im Zuge einer Risikoabschätzung verbindliche Vorgaben zur Nachrüstung von Bestandsstellwerken zu treffen.“

Der selbsttätige Streckenblock zwischen Bad Aibling und Kolbermoor wird in betrieblichen Unterlagen als Zentralblock 65 (Zb 65) bezeichnet. Er weicht von der Regelausführung des Zb 65 aber insofern ab, dass keine Erlaubnisabhängigkeit besteht und der Gegenfahrschutz stattdessen, ähnlich einem Fahrstraßenausschluss im Bahnhof, durch den Ausschluss von in entgegengesetzter Richtung festgelegten Zentralblockabschnitten bewirkt wird. Aus diesem Grund gibt es auch keine Erlaubnismelder.

Der Verzicht auf die Erlaubnisabhängigkeit ermöglicht die Einsparung der sogenannten Selbstblockstreckengruppe. Nach Auffassung der BEU ist ein Zentralblock ohne Selbstblockstreckengruppe nicht als klassischer Zentralblock anzusehen, sondern als eine Form der Blockstreckensicherung mit den Schaltmitteln der Fahrstraßentechnik.

Dies ist schon seit Längerem in Neuanlagen nur noch zulässig, wenn sich zwischen zwei Zugmeldestellen nur ein Blockabschnitt befindet. Gemäß einer Verfügung der Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbahn von 1984 soll in bestehenden Anlagen mit zwischenliegenden selbsttätigen Blocksignalen eine Erlaubnisabhängigkeit nachgerüstet werden. Da keine verbindliche Frist festgelegt wurde, sind noch immer Altanlagen in Betrieb, bei denen das nicht erfolgte. Dies betrifft auch den eingleisigen Streckenabschnitt Bad Aibling – Kolbermoor, der in jeder Richtung in zwei Blockabschnitte unterteilt ist.

Das hier relevante Problem ist nicht der technische Gegenfahrschutz, sondern das Fehlen von Erlaubnismeldern auf dem Stelltisch. Beim elektronischen Stellwerk (ESTW) ist im ESTW-Zentralblock durch das grüne Band und die richtungsweise leuchtenden Festlegeüberwachungs- und Zielfestlegemelder zusätzlich zu den dort auf eingleisigen Strecken und bei Gleiswechselbetrieb immer vorhandenen Erlaubnismeldern sehr deutlich zu erkennen, in welcher Fahrtrichtung in einem Zentralblockabschnitt eine Zugfahrt zugelassen ist. Im Unterschied dazu werden die Blockabschnitte beim Zb 65 nur sehr spärlich ausgeleuchtet. Ein festgelegter Zentralblockabschnitt bleibt dunkel, und die Festlegemelder der Zentralblocksignale leuchten gleichzeitig in beiden Fahrtrichtungen. Die Richtung, in der eine Zugfahrt zugelassen ist, ist nur am Fahrt zeigenden Zentralblocksignal erkennbar.

Da in Bad Aibling das erste Zentralblocksignal Richtung Kolbermoor aufgrund der Schließzeiten eines Bahnübergangs nicht direkt nach Fahrstraßeneinstellung in Fahrtstellung kommt, ist ohne Erlaubnismelder an der Ausleuchtung des Stelltischs nicht erkennbar, in welcher Richtung der eingleisige Streckenabschnitt durch eine Zugfahrt beansprucht wird. Wären Erlaubnismelder vorhanden gewesen, hätte dies die Wahrscheinlichkeit deutlich erhöht, dass der Fahrdienstleiter den Grund für die Nichtbedienbarkeit des Ausfahr­signals erkannt und damit den entscheidenden Fehler nicht begangen hätte.

3. Sicherheitsempfehlung

„Es wird empfohlen, das Regelwerk insbesondere hinsichtlich folgender Punkte zu optimieren:

  • Regeln zur Störungsidentifikation erstellen
  • Regeln für die Anwendung von „Fahrstraßentechnik als Streckensicherung“ erstellen
  • Regeln für die Räumungsprüfung auf eingleisigen Strecken und bei Gleiswechselbetrieb ­überarbeiten und präzisieren“

Mit dem ersten Punkt dieser Sicherheitsempfehlung geht die BEU auf den entscheidenden Fehler des Fahrdienstleiters am Anfang der Ereigniskette ein: Als sich das Ausfahrsignal in Bad Aibling nicht auf Fahrt stellen ließ, ging der Fahrdienstleiter voreilig von einer Blockstörung aus, ohne alle nicht störungsbedingten Ursachen auszuschließen.

Eine Störung offenbart sich für den Fahrdienstleiter meist dadurch, dass ein Hauptsignal wider Erwarten nicht auf Fahrt geht. Die Fahrdienstvorschrift gibt für diesen Fall jedoch keine Handlungsanweisung, sondern setzt erst wieder mit Regeln ein, wenn die Störung vom Fahrdienstleiter korrekt identifiziert wurde. In einem Beitrag der Zeitschrift Bahn-Report wird dazu lapidar angemerkt, dass man dazu nichts regeln müsse, da es doch zum gesunden Menschenverstand gehört, bei Unbedienbarkeit eines Signals die Frage nach dem „Warum“ zu stellen.[3] Natürlich wird sich der Fahrdienstleiter immer die Frage nach dem „Warum“ stellen, es ist aber oft nicht einfach, darauf die richtige Antwort finden. Bei vielen Unfällen und gefährlichen Ereignissen der letzten Jahre, so zum Beispiel im Jahre 2017 bei dem Unfall zwischen Abzweig Weißenberg und Meerbusch-Ostherrath am 5. Dezember 2017 und der Zuggefährdung im Bahnhof Gruiten am 1. Februar 2017, passierten die entscheidenden Fehler genau an dieser Stelle, das heißt bei der korrekten Abklärung der Betriebssituation und dem Ausschluss aller nicht störungsbedingten Ursachen.

Ein gutes Beispiel, wie diese Lücke sicherheitlich zu schließen ist, liefert ein Blick in die Schweizerischen Fahrdienstvorschriften[4]. Dort wurde in einem „Kern­prozess Störungen“ eine grundsätzliche Handlungsfolge festgelegt, die bei allen Störfällen gleich ist. Daraus wird dann in Abhängigkeit von der konkreten Störung in entsprechende Teilprozesse verzweigt. Ganz am Anfang steht ein Abschnitt, der mit „Erste Abklärungen“ überschrieben ist. Sie ist hier wegen ihrer Bedeutung wörtlich zitiert: „Geht ein Signal nicht auf Fahrt oder erreicht ein anderes Element der Sicherungsanlage den angestrebten Zustand nicht, hat der Fahrdienstleiter davon auszugehen, dass eine Bedienung unterlassen wurde oder betriebliche Gründe die Fahrtstellung verhindern. Erst wenn feststeht, dass dies nicht zutrifft, kann von einer Störung ausgegangen werden.“

Die im Sommer 2018 durch die DB Netz AG durch eine Betriebliche Mitteilung eingeführte Anweisung zur Neuregelung der Zulassung von Zugfahrten mit besonderem Auftrag enthält auch eine entsprechende Regel in wörtlicher Übernahme. Es ist davon auszugehen, dass diese künftig auch Eingang in die Fahrdienstvorschrift findet. Eine solche, zunächst nur allgemein formulierte Regel ist dann natürlich noch durch konkrete Handlungshilfen zur Störungsidentifikation zu ergänzen.

Der zweite Punkt dieser Sicherheitsempfehlung ist die Folge einer im Rahmen der Untersuchung durchgeführten Recherche der BEU zur Anwendung von Blockstreckensicherungen mit den Schaltmitteln der Fahrstraßentechnik. Das Ergebnis war, dass die früheren Bundesbahndirektionen unterschiedlichste Ausführungen solcher Streckensicherungen zugelassen hatten, und dass viele dieser Bauformen nur schwer mit allgemein gültigen Regeln der Fahrdienstvorschrift in Einklang zu bringen sind. Hier wird zur Gewährleistung der Handlungssicherheit im Störungsfall Bedarf zur Erstellung geeigneter Regeln gesehen.

Der dritte Punkt dieser Sicherheitsempfehlung hat zum Hintergrund, dass der Fahrdienstleiter vor der Bedienung des Ersatzsignals keine korrekte Einzel­räumungsprüfung durchführte, wobei es zu Fehlinterpretationen des Regelwerks kam. Eine Analyse der Regeln der Fahrdienstvorschrift zur Einzel­räumungsprüfung ergab, dass diese vordergründig aus der Sicht von in gleicher Richtung folgenden Zügen formuliert sind.

Auf eingleisigen Strecken und bei Gleiswechselbetrieb, insbesondere bei mehreren Blockabschnitten, kann es nach Richtungswechseln Interpretationsschwierigkeiten geben, welcher Zug als derjenige anzusehen ist, der den betreffenden Zugfolgeabschnitt zuletzt befahren hat. Die BEU weist darauf hin, dass es sich dabei auch um eine Zugfahrt handeln kann, die noch nicht stattgefunden hat, aber bereits zugelassen wurde. Dies passt nicht zu der im Regelwerkstext verwendeten Vergangenheitsform. Hier empfiehlt die BEU, die Formulierungen in der Fahrdienstvorschrift zu präzisieren, um Missverständnisse auszuschließen.

Damit in Zusammenhang stehen auch die Regeln der Fahrdienstvorschrift für die Zulassung von Zugfahrten mit besonderem Auftrag auf Strecken ohne Erlaubnismelder, bei denen Zugfahrten in der Regel in beiden Richtungen mit Fahrtstellung eines Hauptsignals zugelassen werden. Die Regeln stellen in der sprachlichen Formulierung darauf ab, dass die benachbarten Zugmeldestellen unterschiedlichen Fahrdienstleitern zugeteilt sind. Der Fall, dass beide Zugmeldestellen wie im vorliegenden Fall dem gleichen Fahrdienstleiter zugeteilt sind, lässt sich nur indirekt erschließen. Auch das sollte sprachlich überarbeitet werden.

Bahnsignale an der Strecke in winterlicher Umgebung
Vorsignale in Nienburg (Weser) (Foto: DB AG/Jochen Schmidt)

4. Sicherheitsempfehlung

„Auf Grundlage einer Risikobetrachtung wird empfohlen, die Umstellung des funktionsorientierten Regelwerks zum prozessorientierten Regelwerk zu überprüfen.“

Die Fahrdienstvorschrift der Deutschen Bahn ist heute funktionsorientiert aufgebaut. Das bedeutet, dass sich die Struktur an den grundlegenden Funktionen im Bahnbetrieb orientiert (zum Beispiel Sicherung der Zugfolge, Prüfen und Sichern der Fahrwege), und diese dann durch Regeln für unterschiedliche technische Ausprägungsformen dieser Funktionen untersetzt werden (zum Beispiel Streckenblock- und Stellwerksbauformen). Diese historisch gewachsene und bewährte Struktur hat durchaus ihre Vorzüge. Sie vermeidet Redundanzen und ermöglicht in kompakter Form die Behandlung vieler unterschiedlicher Techniken und Verfahren.

Ein gewisser Nachteil der funktionsorientierten Darstellungsweise besteht systembedingt darin, dass die Zusammenhänge im Bahnbetrieb anhand des Regelwerkstextes kaum verständlich sind. Der Prozess der Durchführung einer Zugfahrt in einem Streckenabschnitt wird nirgends geschlossen beschrieben, stattdessen finden sich die dabei im Regel- und Störungsfall zu beachtenden Regeln über das ganze Werk verteilt.

Das ist zunächst kein grundsätzliches Problem, da Regelwerke nicht der Wissensvermittlung dienen, sondern darauf aufbauen, dass die Anwender mit den Prozessen vertraut sind. Dies setzt eine Ausbildungskultur voraus, in der großer Wert auf die Vermittlung eines fundierten Verständnisses für die Systemzusammenhänge gelegt wird, da der Anwender diese in den Regelwerken so nicht vorfindet.

Die prozessorientierte Darstellung folgt einem anderen Ansatz, indem das Regelwerk unmittelbar die Prozesse zur Durchführung von Fahrten mit Eisenbahnfahrzeugen beschreibt.[5] Da diese Prozesse stark von der vorhandenen Technik abhängen, insbesondere von der Technik zur Zugfolgesicherung, führt diese Darstellungsweise zwingend zu einer Sortierung der Regeln nach Betriebsverfahren beziehungsweise technischen Ausrüstungsvarianten.

Am konsequentesten wurde dieses Prinzip im britischen Regelwerk umgesetzt, wo es für jede technische Realisierung der Zugfolgesicherung ein eigenes Modul gibt, sozusagen eine eigene kleine Betriebsvorschrift für jede Streckenblockbauform. Darin sind, fast wie in einem Lehrbuch, nach einer kurzen Beschreibung des für diese Bauform geltenden Verfahrens, die Prozessabläufe für die Durchführung einer Zugfahrt im Regel- und Störungsfall in Form illustrierter Texte beschrieben.

In Deutschland wäre die Umstellung auf ein prozessorientiertes Regelwerk im bestehenden Netz wegen der außerordentlichen Vielfalt an Streckenblock- und Stellwerksbauformen kaum umsetzbar. Hier bietet aber die Digitalisierung interessante Möglichkeiten. Da im Rahmen der Strategie „Digitale Schiene Deutschland“ die Umstellung auf digitale Stellwerke (DSTW) und das europäische Zugbeeinflussungssystem ETCS nicht durch punktuelle Maßnahmen, sondern durch flächenweises Ausrollen mit geschlossener Umstellung kompletter Betriebsbezirke vorgesehen ist, werden zunehmend große, zusammenhängende Bereiche mit einer einheitlichen neuen Leit- und Sicherungstechnik entstehen.

Es bietet sich daher an, für diese neue Technologie auch ein neues betriebliches Regelwerk zu erstellen, das die Belange der Alttechniken nicht mehr berücksichtigen muss. Wenn man bereit ist, diesen Schritt zu gehen, könnte dieses, auf eine einheitliche Technologie ausgerichtete Regelwerk auch prozessorientiert gestaltet werden. Dabei könnte man sich auch von einigen überholten, aus der Welt der ortsfesten Signalisierung stammenden Prinzipien lösen.

Wie die Erfahrungen mit der Anwendung der ETCS-Betriebsarten auf den bisherigen Strecken mit ETCS-Level 2 ohne ortsfeste Signale bereits heute zeigen, passen zum Beispiel die traditionellen betrieblichen Unterscheidungen zwischen Bahnhof und freier Strecke sowie zwischen Zug- und Rangierfahrten nur noch bedingt in die Welt eines rein anzeigegeführten Bahnbetriebs.

5. Sicherheitsempfehlung

„Es wird empfohlen, bei Trainings-und Schulungsmaßnahmen verstärkt auf Stellwerksimulatoren zurück­zugreifen und auch die Aspekte Unterforderung, neue Medien und Ablenkung aufzugreifen.“

Hinsichtlich des ersten Teils dieser Empfehlung ist die DB auf dem richtigen Weg, da Stellwerkssimulatoren bereits breite Anwendung in der Fahrdienstleiterausbildung finden. Die Möglichkeiten der Anwendung von Simulationen können aber noch deutlich ausgebaut werden. Beispiele wären:

  • vernetzte Simulationen, bei denen die Teilnehmer untereinander betrieblich kommunizieren müssen,
  • Simulationen für besondere Bauformen wie die Blockstreckensicherung mit den Schaltmitteln der Fahrstraßentechnik, die im Störungsfall abweichende Feststellungen oder Sicherungsmaßnahmen erfordern,
  • Simulationen zur Unterstützung der örtlichen Einweisung, indem sich Fahrdienstleiter am Simulator, gegebenenfalls sogar im Selbststudium am privaten PC, mit einem neuen Steuerbereich vertraut machen können.

Der zweite Teil dieser Empfehlung greift die Ablenkung des Fahrdienstleiters durch die Nutzung des Smartphones auf. Anstatt aber nur eine verschärfte Durchsetzung bestehender Verbote zu fordern, wird angeregt, sich mit den Auswirkungen der neuen Medien, insbesondere auch in Verbindung mit geistiger Unterforderung, kritisch auseinander zu setzen.

Die heutigen Stellwerke stammen zum großen Teil noch aus dem analogen Zeitalter. Die Gesellschaft hat sich seitdem durch die neuen Medien grundlegend geändert, und der Wandel ist noch lange nicht abgeschlossen. Für große Teile der Bevölkerung, schon lange nicht mehr nur die junge Generation, ist das Smartphone ein absolut selbstverständlicher Teil des Lebensalltags. Ein Verbot, dieses selbst in Pausen und Zeiten geringer Leistungsanforderung am Arbeitsplatz zu benutzen, wird von vielen als derart unerträglich empfunden, dass das Verbot bereits seine Missachtung impliziert. Eine Durchsetzung dieses Verbots durch Überwachung ist ohnehin kaum möglich. Es wird auch nicht beim Smartphone bleiben, elektronische Kommunikationstechnik wird zunehmend in Uhren, Kleidungsstücke, Brillen und künftig vermutlich auch Implantate integriert, so dass die Nutzung weder zu kontrollieren noch zu unterbinden sein wird.

Die wirksamste Möglichkeit, die Nutzung solcher Kommunikationsmittel am Arbeitsplatz einzuschränken, ist die anforderungsgerechte Belastung der Mitarbeiter. Nicht nur die unerlaubte Nutzung privater Kommunikationstechnik, auch das generelle gedankliche Abdriften vom zu steuernden Prozess, setzen immer in Zeiten geistiger Unterforderung ein. Die dadurch bedingte Herabsetzung des Situationsbewusstseins führt beim Wiedereinstieg in den Prozess zu einer erhöhten Fehlerwahrscheinlichkeit. In der Psychologie ist dieser Effekt als „Stress durch Unterforderung“ bekannt. Es ist daher kein Zufall, dass die durch fahrdienstliche Fehlhandlungen verursachten Unfälle der letzten Jahre fast immer auf kleinen und für das Stellwerkspersonal im Regelbetrieb eher langweiligen Betriebsstellen passierten.

Die neue Betriebssteuerungsstrategie der Einrichtung von Bedienzentralen mit 6 bis 20 Arbeitsplätzen ist hier genau der richtige Weg, um eine anforderungsgerechte Belastung der Mitarbeiter zu gewährleisten.

6. Sicherheitsempfehlung

„Auf Grundlage einer Risikobetrachtung wird empfohlen, die gegenwärtige Anschaltbarkeit des Ersatzsignals Zs 1 kritisch zu hinterfragen und diese mit risiko­minimierenden betrieblichen und/oder technischen Bedingungen zu untersetzen.“

Dieses Thema wurde bereits ausführlich in einem Beitrag in Deine Bahn besprochen.[6] Nicht nur als Reaktion auf diesen Unfall wurde im Jahr 2018 von der DB Netz AG die Anweisung erlassen, dass die erste Fahrt, die mit besonderem Auftrag zugelassen wird, immer auf Sicht verkehren muss. Auch dies ist eine direkte Übernahme einer entsprechenden Regel aus der Schweizerischen Fahrdienstvorschrift.

Der Unfall von Bad Aibling erregte auch Aufmerksamkeit im Ausland, die Rezeption in den Medien unterschied sich jedoch deutlich von der Wahrnehmung in Deutschland. Während sich deutsche Beiträge auf das Smartphone-Thema konzentrierten, stellten ausländische Autoren in Fachbeiträgen das Ersatzsig­nal in den Mittelpunkt ihrer Kritik.[7] Ein Ersatzsignal im deutschen Sinne, das heißt, ohne Forderung des Fahrens auf Sicht, ist international nahezu unbekannt.

Ausländische Eisenbahnfachleute sind daher oft verwundert, dass im deutschen Bahnbetrieb einerseits vieles sehr restriktiv mit ausgefeilten Sicherheitsvorkehrungen gehandhabt wird, man dann aber andererseits dem Fahrdienstleiter mit dem Ersatzsignal ein erstaunlich einfaches Mittel in die Hand gibt, mit einer einzigen zählpflichtigen Handlung sämtliche technischen Sicherungssysteme in Personalverantwortung umgehen zu können. Hier wurde von der DB Netz AG inzwischen die oben genannte Konsequenz gezogen.

„Die Verbesserung der Betriebssicherheit muss sich auf das menschliche Handeln konzentrieren“

Abschließendes Fazit

Die sechs Sicherheitsempfehlungen haben zwei Gemeinsamkeiten. Zunächst einmal beziehen sich alle auf das Eisenbahninfrastrukturunternehmen, was bei einer Fehlhandlung des Stellwerkspersonals nicht verwundert. Bemerkenswerter ist hingegen, dass alle Sicherheitsempfehlungen den Faktor Mensch betreffen, indem sie auf die Gestaltung der Mensch-Maschine-Schnittstelle und das betriebliche Regelwerk verweisen. Bis auf den Hinweis auf die Anschaltbedingungen des Zs 1, wobei auch hier nicht zwingend eine technische Lösung gefordert wird, spielen Sicherungsanlagen nur hinsichtlich der Gestaltung der Bedienoberfläche sowie der zugehörigen betrieblichen Regeln eine Rolle.

Daraus ist die Erkenntnis abzuleiten, dass sich in Sicherungsanlagen mit durchgehender technischer Gleisfreimeldung, in denen im Regelbetrieb die Fahrweg- und Zugfolgesicherung technisch gewährleistet ist, Maßnahmen zur Verbesserung der Betriebssicherheit auf den menschlichen Faktor konzentrieren müssen. Das Ziel muss dabei eine höhere Handlungssicherheit des Menschen im Störungsfall und höhere Toleranz der betrieblichen Verfahren gegen menschliche Fehler sein.

Quellen

[1] Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung: Jahresbericht 2017.
[2] Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung: Untersuchungsbericht zur Zugkollision am 09.02.2016, Bad Aibling–Kolbermoor.
[3] Blankenheim, D.: Offizieller Unfallbericht zu Bad Aibling erschienen – eine weitere Nachbetrachtung. Bahn-Report 1/2019, S. 20.
[4] Schweizerische Fahrdienstvorschriften FDV, R 300.1-.15 vom 01.07.2016.
[5] Pachl, J.: Betriebssicherheitliche Regelwerke im internationalen Vergleich. Der Eisenbahningenieur 63 (2012) 2, S. 48–52.
[6] Pachl, J.: Das Ersatzsignal – ein deutscher Sonderweg? Deine Bahn 3/2018, S. 12–18.
[7] Van der Mark, P: Learning from a recent accident: Bad Aibling. IRSE News 227, November 2016, S. 14–15.
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