
Sie galten als kostspielig, und ihre Strukturen als verkrustet: Es war wenig schmeichelhaft, was man den beiden Bahnen in BRD und DDR in den achtziger Jahren attestierte. Die von der damaligen Bundesregierung eingesetzte Regierungskommission Bundesbahn analysierte die Situation zunächst der Bundes- und nach dem Mauerfall auch der Reichsbahn. In ihrem Abschlussbericht entwarf sie die Struktur einer Bahnreform, die schließlich 1993 mit überwältigender Mehrheit im Bundestag beschlossen wurde und zum Jahresbeginn 1994 in Kraft trat: Aus Bundesbahn und Reichsbahn wurde die neu gegründete Deutsche Bahn AG. Die Bilanz fällt aus heutiger Sicht gemischt aus und weitere Reformschritte sind unerlässlich, vor allem bei der Infrastrukturentwicklung.
Die neue DB AG sollte zukünftig sowohl das Bundesschienennetz unterhalten als auch als eines von vielen Eisenbahnverkehrsunternehmen im Markt agieren. Nur die hoheitlichen Aufgaben blieben direkt beim Staat: Als Aufsichtsbehörde wurde das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) gegründet, und die Beamten der Bundesbahn sowie die nicht für den Bahnverkehr benötigten Grundstücke gingen an das Bundeseisenbahnvermögen über.
Die mit der Reform verbundenen Hoffnungen waren riesig; in den Bundestagsdebatten gab es regelrecht enthusiastische Reden: Man erwartete wesentlich mehr Verkehr auf der Schiene in besserer Qualität bei gleichzeitig niedrigeren Preisen und mit geringerem staatlichem Zuschussbedarf; kurzum: eine grundlegende Trendwende. Dass dabei Zielkonflikte unvermeidlich sind und nicht alles gleichzeitig möglich ist, ging in der allgemeinen Euphorie weitgehend unter.
Wachstum bei geschrumpftem Schienennetz
So ist es wenig überraschend, dass die tatsächliche Bilanz 30 Jahre später durchwachsen ausfällt. Wirklich positiv hat sich vor allem die Verkehrsleistung auf der Schiene entwickelt. Das gilt insbesondere für den Schienengüter- und den Schienenpersonennahverkehr (SPNV). Für letzteren sind seit der Reform die Länder bzw. von ihnen eingesetzte Aufgabenträger zuständig. In vielen Regionen ist der SPNV seitdem wesentlich dichter und attraktiver geworden und zudem oft besser mit dem öffentlichen Nahverkehr verknüpft.
Der Grund für die bessere Qualität ist neben der klaren Definition des Nahverkehrs als Aufgabe der Daseinsvorsorge vor allem die verbesserte Finanzierung, die der Bund den Ländern über die Regionalisierungsmittel zukommen lässt – während der Regionalverkehr vor der Reform unterfinanziert war. Nicht zuletzt durch diese Steigerungen im SPNV ist der Personenverkehr auf der Schiene insgesamt um gut 70 Prozent gewachsen. Der jahrelange Abwärtstrend beim Marktanteil (Modal Split) wurde gestoppt, und er ist stattdessen wieder angestiegen – wenn auch nur leicht von 6,5 Prozent im Jahr 1993 auf inzwischen 8,9 Prozent.
Beim Güterverkehr auf der Schiene hat sich die Verkehrsleistung seit der Bahnreform sogar verdoppelt, weil engagierte Güterverkehrsunternehmen viele neue Transporte auf die Schiene gebracht haben. Auch hier wurde der Abwärtstrend bei den Marktanteilen gestoppt, und der Schienengüterverkehr konnte im Modal Split wieder zulegen – von 16,6 Prozent (1993) auf inzwischen 19,8 Prozent.
Leider heißt das im Umkehrschluss auch: Noch immer rollt der weit überwiegende Teil – mehr als 72 Prozent des Güterverkehrs und sogar über 80 Prozent des Personenverkehrs – über die Straßen und Autobahnen. Trotz erfreulicher Steigerungen ist die Verlagerung auf die Schiene also bisher kaum vorangekommen – ein Ergebnis des starken Verkehrswachstums bei einer gleichzeitig unverändert straßenverkehrsfreundlichen Politik.
Ein zunehmendes Hindernis für ein weiteres Wachstum des Schienenverkehrs ist der Mangel an Kapazitäten auf vielen Strecken. Trotz der Eröffnung einiger Neubaustrecken ist das Schienennetz unterm Strich sogar deutlich geschrumpft statt gewachsen: Seit der Bahnreform sind fast zwölf Prozent des Netzes stillgelegt worden (Abbildung 1 folgende Seite).
Damit verlief die Entwicklung des Schienennetzes völlig anders als die aller anderen Verkehrsinfrastrukturen in Deutschland, die im gleichen Zeitraum kontinuierlich erweitert wurden. Viele Regionalstrecken wurden seit den 1990ern sogar komplett entwidmet, sodass eine Reaktivierung sehr schwierig ist. Hier hat man die westdeutschen Fehler der 1960er und 70er Jahre leider in Ostdeutschland wiederholt: Zahlreiche Orte wurden vom Schienennetz abgekoppelt, was oft mit einem wirtschaftlichen Niedergang einherging.
Das verbleibende Netz ist mit dem wachsenden Verkehr zunehmend überlastet. Hinzu kommt ein Nachholbedarf bei der Instandhaltung, der sich inzwischen auf über 90 Milliarden Euro summiert. Viele Brücken, Stellwerke, Gleise und Oberleitungen sind überaltert; das Ausfallrisiko steigt damit erheblich. Dadurch kommt es immer wieder zu Störungen und kurzfristigen Sperrungen oder Züge müssen streckenweise langsamer fahren. Zudem wurde auch noch mehr als die Hälfte der Weichen aus dem Netz entfernt, um damit Geld für die Instandhaltung einzusparen.

Folgen einer fehlenden Netzstrategie des Bundes
Das Ergebnis ist ein Schienennetz mit geschrumpfter Kapazität und Flexibilität, was eine der Ursachen für viele Verspätungen im Schienenverkehr ist. Der Rückzug betraf nicht zuletzt auch die Bahnhöfe: Seit der Bahnreform wurden 81 Prozent der Bahnhofsgebäude verkauft. Es ist Glückssache, ob eine engagierte Kommune ein Gebäude übernommen und zu einer regionalen Mobilitätszentrale ausgebaut hat oder ob ein Spekulant es verrotten lässt. Zudem wurden viele „nicht bahnnotwendige“ Grundstücke veräußert, die man jedoch zukünftig möglicherweise wieder für Kapazitätserweiterungen benötigt.
Für die Infrastruktur ist die Bilanz der Bahnreform also insgesamt negativ. Hier hat die fehlende Netzstrategie des Bundes in Verbindung mit der rein betriebswirtschaftlichen Ausrichtung des DB-Konzerns zu einer enormen Fehlsteuerung geführt. Hinzu kommt die unzureichende Finanzierung des Neu- und Ausbaus bei gleichzeitig fehlender langfristiger Verlässlichkeit, da die Mittel jährlich mit dem Bundeshaushalt festgelegt werden (Abbildung 2). Dies ist der Grund dafür, dass der dringend notwendige und mit dem Bundesschienenwegeausbaugesetz eigentlich bereits beschlossene Ausbau des Schienennetzes nicht vorankommt.
Inzwischen hat der 1994 schuldenfrei gestartete DB-Konzern fast 40 Milliarden Euro Schulden angehäuft. Grund dafür ist vorwiegend die jahrelang verfolgte internationale Ausrichtung. Besonders unter Hartmut Mehdorn und seinem Nachfolger Rüdiger Grube wurden für viele Milliarden Euro Unternehmen aufgekauft, die mit dem Kerngeschäft des Schienenverkehrs in Deutschland wenig zu tun hatten.
Das Tochterunternehmen DB Schenker ist heute zwar auf dem internationalen Markt ein Logistik-Champion; das hat aber leider kaum dazu beigetragen, Güterverkehr in Deutschland auf die Schiene zu verlagern. DB Arriva betreibt Nahverkehr auf Schiene und Straße in vielen anderen Ländern Europas – auch dies ohne positive Effekte für den deutschen Schienenverkehr. Im Zuge der aktuellen Rückbesinnung des DB-Konzerns auf sein Kerngeschäft stehen daher konsequenterweise beide Tochterunternehmen auf der Verkaufsliste.
Glücklicherweise gescheitert ist das bis 2008 intensiv verfolgte Projekt eines Börsengangs der DB AG – mitsamt dem damals diskutierten Einstieg russischer Investoren. Damit hätte der Bund die Möglichkeit einer politischen Steuerung des Staatskonzerns, die immer dringlicher wird, weitgehend aufgegeben.
Reformansätze für die Infrastruktur
Nach 30 Jahren lässt sich bilanzieren: Die rein betriebswirtschaftliche Ausrichtung der DB AG bei unklaren politischen Zielen, besonders für die Infrastruktur, hat sich in vielerlei Hinsicht nicht bewährt. Die Folgen erleben die Bahnreisenden nun täglich: Der Anteil der verspäteten Züge im Fernverkehr liegt inzwischen bei über einem Drittel – keine gute Werbung für die Nutzung der Bahn.
Noch schlimmer trifft es die Schienengüterverkehrsunternehmen: Sie können Transportaufträge aufgrund fehlender Schienenkapazitäten teilweise nicht annehmen, und ihre Züge haben oft viele Stunden Verspätung. Das bremst eine stärkere Verlagerung von Transporten auf die Schiene, die klimapolitisch dringend geboten wäre.
Immerhin ist das Problem inzwischen in der Politik angekommen: Es ist unstrittig, dass es neben mehr Geld eine bessere Struktur braucht, um das Schienennetz vorausschauend instand zu halten und zügig auszubauen. Die Lösung soll die neue DB InfraGO AG bringen, die zum 1. Januar 2024 gegründete gemeinwohlorientierte Infrastruktursparte innerhalb der DB AG. Dafür wurden die bestehenden Tochterunternehmen DB Netz und DB Station&Service zusammengelegt.
Manche bezeichnen diese neue Struktur schon als „Bahnreform 2.0“. Sie wird das Problem der Netzinstandhaltung jedoch allein nicht lösen. Denn bisher fehlt eine klare Positionsbestimmung, was diese neue Gesellschaft denn nun genau leisten soll und wie das Gemeinwohl konkret vom Bund definiert ist. Noch fehlt eine Steuerung durch politisch vorgegebene strategische Ziele. Immerhin ist im März ein neuer Sektorbeirat mit Vertreter*innen der Branche geschaffen worden, der die Gesellschaft beraten soll.
Ein wichtiges Steuerungselement soll zukünftig auch der sogenannte Infraplan werden, mit dem die Bauprojekte im Schienennetz für jeweils fünf Jahre im Voraus verbindlich festgelegt werden – jährlich rollierend fortgeführt. Dies wird aber nur dann wirklich eine Verbesserung gegenüber der heutigen Situation bringen, wenn auch die Finanzierung verbindlich festgelegt wird. Denn nur dann wäre die Umsetzung innerhalb des Zeitplans – im Gegensatz zum Bundesschienenwegeausbaugesetz – auch tatsächlich gewährleistet.
Der beste Weg dafür wäre es, zwei Fonds zu schaffen, mit denen die Mittel für die Instandhaltung sowie für den Neu- und Ausbau langfristig garantiert werden. Das ist eine der zentralen Empfehlungen der Beschleunigungskommission Schiene, die Ende 2022 ihren Abschlussbericht vorgelegt hat. Damit wären die Investitionen ins Schienennetz erstmals unabhängig von den jährlich wechselnden Prioritäten im Bundeshaushalt und den damit verbundenen Unsicherheiten, sodass die Planungs- und Baukapazitäten auch dementsprechend aufgebaut werden können – so wie sich dies in der Schweiz und in Österreich bereits gut bewährt (vgl. Abb. 2).

Den Sanierungsstau abbauen
Auch wenn diese Schritte momentan noch in der politischen Diskussion sind, beginnt die DB InfraGO AG schon in diesem Jahr mit der dringend notwendigen Instandsetzung des Schienennetzes. Um die vielen anstehenden Baumaßnahmen im Netz zu bündeln und zu verhindern, dass Strecken mehrfach gesperrt werden müssen, sollen diese als Korridorsanierungen stattfinden: Ganze Streckenabschnitte werden über Monate komplett gesperrt, dabei aber umfassend erneuert – inklusive kapazitätserweiternder Maßnahmen wie neuer Überleitstellen oder verbesserter Leit- und Sicherungstechnik.
Für den Bahnverkehr bedeutet das allerdings massive Einschränkungen: Viele Fahrgäste werden in Ersatzbussen unterwegs sein, und die Güterverkehrsunternehmen müssen teilweise große Umwege mit erheblichen Mehrkosten in Kauf nehmen. Dafür sollen aber über die nächsten Jahre auf den meistbefahrenen Strecken „Hochleistungskorridore“ entstehen, auf denen dann für lange Zeit keinerlei Sperrungen mehr notwendig sein sollen.
In Anbetracht des Sanierungsstaus ist dieser schmerzhafte Weg wohl unausweichlich. Er sollte aber die Ausnahme bleiben und zukünftig wieder durch das kapazitätsschonende Bauen mit kurzzeitigen Sperrungen einzelner Gleise möglichst über Nacht ersetzt werden, um Fahrgäste und Verlader nicht dauerhaft zu verschrecken.
Für die Umsetzung der neuen Baukonzepte fehlen allerdings noch die entsprechenden gesetzlichen Regelungen, insbesondere da einige technische Anlagen im Zuge der Korridorsanierungen früher ersetzt werden als dies eigentlich ihrer technischen Lebensdauer entspräche. Dies soll mit der Novelle des Bundesschienenwegeausbaugesetzes (BSWAG) ermöglicht werden, um das erst über mehrere Monate innerhalb der Regierung gestritten worden war und das nun nach dem Beschluss des Bundestages im Vermittlungsausschuss zwischen Bundesrat und Bundestag liegt, weil die Länder an mehreren Stellen noch zusätzlichen Regelungsbedarf sehen. Hier müssen alle Beteiligten auf eine schnelle Einigung hinarbeiten, um den ehrgeizigen Zeitplan nicht zu gefährden.
Weitere Voraussetzungen für die zügige Modernisierung des Netzes, die von der Beschleunigungskommission Schiene ausgearbeitet wurden, sollen mit dem noch ausstehenden „Moderne-Schiene-Gesetz“ ebenfalls noch in diesem Jahr umgesetzt werden. Damit ist die Grundlage für die zügige Modernisierung der Infrastruktur in greifbarer Nähe; allerdings müssen in den nächsten Jahren auch die notwendigen Finanzmittel dafür bereitgestellt werden.
Deutschlandtakt als Ziel
Für den Ausbau der Infrastruktur braucht es eine klare Leitstrategie, und für einen zukünftig weiterwachsenden und attraktiven Schienenverkehr auch ein entsprechendes Angebot. Dafür gibt es mit dem Deutschlandtakt ein durchdachtes Konzept, wie ein dichter, vernetzter und zuverlässiger Bahnverkehr im ganzen Land zukünftig aussehen müsste – sowohl für den Personenverkehr als auch mit eingeplanten Trassen für den Güterverkehr. Für die Umsetzung braucht es aber wiederum an vielen Stellen im Netz gezielte Investitionen, etwa um die Kapazitäten auf einzelnen Strecken zu erhöhen oder Engpässe in den großen Knoten zu beseitigen.
Der Schlüssel für die Realisierung dieses dringend benötigten Konzepts ist eine stufenweise Umsetzung – die Etappierung: Es müssen erreichbare Zwischenziele mit verbindlichen Zeitpunkten definiert werden, bis zu denen bestimmte Infrastrukturmaßnahmen umgesetzt werden und mit denen dann schon Teile des Deutschlandtakt-Fahrplans in Betrieb gehen können. Viele der benötigten Maßnahmen sind vom Umfang her überschaubar und in einem kurzen Zeithorizont realisierbar – etwa zusätzliche Weichenverbindungen oder Signale. Sie müssen in den Infraplan aufgenommen und so umgesetzt werden, dass sowohl die Fahrgäste als auch die Transporteure schon schnell einen konkreten Nutzen haben.
Zu klären ist aber auch, wie der Vorrang für die Systemtrassen des Deutschlandtakts verankert werden kann, wofür auch das EU-Recht weiterentwickelt werden muss. Es muss gewährleistet werden, dass alle Züge als Netzwerk mit abgestimmten Fahrplänen und einheitlichen Tarifen verkehren. Mit dem bisherigen Open-Access-Wettbewerb, bei dem jeder Anbieter seine eigenen Fahrpläne erstellt und sein eigenes Tarifsystem unterhält, wird dies nicht möglich sein. Besonders im SPNV steigt der Bedarf für zusätzliche Verkehre und damit für eine Erhöhung der Regionalisierungsmittel – nicht zuletzt aufgrund der erfreulichen Nachfragesteigerung durch das Deutschlandticket.
Aber nicht nur innerhalb Deutschlands muss im Zuge der Klimakrise viel mehr Verkehr auf die Schiene verlagert werden, sondern auch international. Die grenzüberschreitende Infrastruktur muss deutlich ausgebaut werden, und jenseits des Deutschlandtakts müsste noch der „Europatakt“ entstehen, der die europäischen Länder miteinander verbindet – sowohl mit schnellen Tagesverbindungen als auch mit komfortablen Nachtzügen. Diese sind besonders für Langstrecken oft die erste Wahl und erfreuen sich schon jetzt zunehmender Beliebtheit. Mit dem „TEE 2.0“ gab es auch hier schon erste Überlegungen, die aber weiterentwickelt und vor allem zügig in Kooperation zwischen den nationalen Bahnen umgesetzt werden müssen.
Fazit
Die Herausforderungen für das System Bahn sind momentan riesig – die Chancen aber ebenso. Die Politik hat endlich erkannt, dass wir die Bahn dringender denn je als Rückgrat einer nachhaltigen Mobilitätswende brauchen und der Ausbau des Schienennetzes überfällig ist. Mit dem Deutschlandtakt und der Gemeinwohlorientierung der Infrastruktur liegen konkrete Ansätze vor, um die erste Bahnreform von 1994 substanziell weiterzuentwickeln. Entscheidend ist jedoch endlich eine konsequente verkehrspolitische Prioritätensetzung zugunsten der Schiene.
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