Nach der Streichung des europäischen „Green Deals“ im Basisdokument der neuen EU-Kommission mit Ursula von der Leyen als bisherige und neue EU-Kommissionspräsidentin blickt der Eisenbahnsektor mit Spannung und auch Sorge auf Europa. Der Green Deal war ein wesentlicher Treiber und auch Motor für die Weiterentwicklung des Bahnsektors. Dieser ist gekennzeichnet von fundamentalen Weichenstellungen, sei es die Digitalisierung/Automatisierung oder der weiterhin bestehende Fachkräftemangel. Gleichzeitig verändern sich durch diese Treiber die Jobprofile vieler Berufe im Eisenbahnsektor mit neuen Anforderungen an Qualifikation und Zukunftskompetenzen. Dadurch ergibt sich die drängende Frage: Was können wir von der zukünftigen EU-Kommission und der Politik in Europa für die Eisenbahn aus der Perspektive der Personalgewinnung erwarten?
Eine erste Antwort auf die Frage nach der künftigen EU-Politik geben die sogenannten „Mission letters“ von der Kommissionspräsidentin an die designierten Mitglieder der Kommission. Diese „Briefe“ enthalten auf jeweils drei bis vier Seiten so etwas wie das Arbeitsprogramm, die Leitlinien für die anstehende Legislatur.
Auf Basis dieser Dokumente im Bereich Verkehr, Beschäftigung, Bildung und Migration hat der Autor eine Übersicht erstellt, aus der sich ein erstes konkretes Bild über die zu erwartenden Aktivitäten der neuen EU-Kommission mit Relevanz für den Eisenbahnsektor ergibt (Abbildung 1). Und dieses gibt Hoffnung, dass sich zu zentralen Anliegen der Branche, auch im Bereich Personal, doch mehr tut als zunächst anzunehmen war.
Leitlinien und Arbeitsprogramm für die neue EU-Kommission
In sogenannten „Mission Letters“ hat die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen an die jeweils designierten EU Kommissar*innen in Briefform deren jeweiliges Arbeitsprogramm, ihre Leitlinien gesendet („designiert, weil noch durch das EU-Parlament zu bestätigten). Diesen Briefen sind intensive Verhandlungen zwischen der Kommissionspräsidentin und dem Europäischen Rat/ den Regierungen der Mitgliedsstaaten vorangegangen. Veröffentlicht sind die „Mission Letters“ auf der Seite der EU-Kommission.
Neue Leitlinie für den Verkehr auf EU-Ebene
Trotz der Streichung des europäischen „Green Deals“ findet sich in dem „Mission Letter“ an den designierten Kommissar für Verkehr, den Griechen Apostolos Tzitzikostas, ein neuer Leitsatz: „Mobility at the heart of our Union“ – Mobilität ist die Basis für unsere EU. Das Bekenntnis gibt Hoffnung, dass die Förderung des grenzüberschreitenden Verkehrs, und damit des Eisenbahnsektor, ein zentrales Anliegen der EU bleibt. Mit den Vorhaben von der Digitalen Automatischen Kupplung (DAK) bis hin zu europaweitem ETCS stehen dem Bahnsektor zentrale Weichenstellungen bevor. Im Arbeitsprogramm für den Verkehrsbereich finden sich diese Themen wieder.
Designierte EU-Kommissare im Bereich Beschäftigung und Verkehr
- Roxana Mînzatu (Rumänien), Vize-Präsidentin der neuen EU KOM und zuständig für Soziales, Fähigkeiten, Kompetenzen und Altersvorsorge (Executive Vice-President Social Affairs, Skills, Competences and Pensions)
- Apostolos Tzitzikostas (Griechenland), EU Kommissar für nachhaltigen Verkehr und Tourismus (Commissioner for Sustainable Transport and Tourism)
Fachkräftemangel und Veränderung der Jobprofile als Treiber des Wandels
Das gerade abgeschlossene EU-Blueprintprojekt STAFFER belegt eindrücklich, was viele im Eisenbahnsektor ebenfalls spüren: Neben dem weiterhin akuten Fachkräftemangel ändern sich – vor allem durch die Digitalisierung und Automatisierung sowie neue Techniken – die Jobprofile vieler Bahnberufe. Es sind – teils schon heute, sicher aber in der Zukunft – neue Kompetenzen erforderlich.
Zu den „future skills“, den Zukunftskompetenzen gehören vor allem verstärkt Informations-, Kommunikations- und Technologie-Kompetenzen, kurz „ICT-Skills“. Also ein neuer Mix aus technischen und digitalen, aber auch nicht technischen Fähigkeiten. Hierfür braucht es neue Qualifikationen und Trainingsprogramme, zumindest zusätzliche Module zu bestehenden Ausbildungen und Weiterbildung – und das zunehmend auch grenzüberschreitend.
EU-Vorhaben im Bereich Beschäftigung, Bildung und Weiterbildung
Folgende geplante Maßnahmen und Initiativen aus dem Mission Letter der Kommissarin für Beschäftigung passen zu diesen Anforderungen:
- Europäischen Bildungsraum weiterentwickeln und Erasmus+ stärken
- Arbeit am Europäischen Abschluss fortsetzen und Europäische Hochschulallianzen fördern
- Initiative zur Portabilität von Kompetenzen innerhalb der EU vorlegen, Arbeit an Anerkennung von Qualifikationen erhöhen
- Europäische Strategie zur beruflichen Aus- und Weiterbildung entwickeln, um Anzahl an Menschen mit Ausbildungen zu erhöhen
- Einen Aktionsplan zu Grundkompetenzen und einen Strategieplan zur MINT-Bildung entwickeln
- Arbeit am Pakt für Kompetenzen („Skills Pact“) durch großangelegte Partnerschaften fortsetzen
- EU-Agenda für Lehrkräfte entwickeln, um Arbeitsbedingungen, Weiterbildung und Karriereaussichten zu verbessern; die Einführung einer Europäischen Schulallianz prüfen
- Fahrplan für hochwertige Arbeitsplätze gemeinsam mit den EU-Sozialpartnern und ein Pakt für den Sozialen Dialog (mit Arbeitgebern und Gewerkschaften gemeinsam)
- Digitalisierung der Arbeitswelt, inkl. Initiative zum algorithmischen Management und das Recht auf Nichterreichbarkeit
STAFFER (Skill and Training Alliance for the Future of European Railway)
EU-Blueprintprojekt mit 32 Partnern aus dem Eisenbahnsektor aus 16 EU-Mitgliedsstaaten. Dieses enthält u. a. eine Analyse des Wandels der Jobprofile im Eisenbahnbereich und zukünftig verstärkt oder neu benötigter Kompetenzen. Der Abschlussbericht enthält dringende Handlungsempfehlungen an die neue EU KOM.
www.railstaffer.eu
Verbesserung der Arbeitsmobilität und Migration von Fachkräften
Entscheidend für Maßnahmen, um dem Fachkräftemangel entgegen zu wirken, wird eine Verbesserung der Arbeitsmobilität sowie die Migration von Fachkräften außerhalb Europas sein. Hierzu gibt es in den Mission Letters gute Ansätze. Diese werden aber nur nachhaltig positiv wirken, wenn sowohl im Bereich des Mindsets, als auch in der Dokumentation und der Anerkennung von Qualifikationen Verbesserungen vorgenommen werden (Abbildung 2).
Fazit und Ausblick
Das Programm für die künftige EU-Kommission enthält für den Eisenbahnsektor erfreulicherweise mehr positive Aspekte als zunächst zu vermuten war. Entscheidend wird eine zeitnahe und konsequente Umsetzung sein. Die Weichenstellungen im technischen Bereich mit der Digitalisierungsinitiative müssen einhergehen mit einer auf die Transformation ausgerichteten Strategie für das Personal.
Hierzu sollte man im Eisenbahnsektor die neu geplanten EU-Initiativen nutzen, wie der Europäischen Strategie zur beruflichen Aus- und Weiterbildung, dem Aktionsplan zu Grundkompetenzen und zur MINT-Bildung sowie den neuen Pakt für Kompetenzen. Dafür bedarf es Initiativen aus dem Bahnsektor. Diese sollten auch neue Wege gehen, zum Beispiel mit grenzüberschreitenden, gemeinsamen Trainingsmodulen zwischen den Bahnen. Die könnten dann von der EU gefördert werden. Ein Update oder Fortführung von EU-Projekten wie STAFFER wäre ebenfalls dringend zu empfehlen.
Im Bereich der Fachkräfte muss es zeitnah zudem zu einer Verbesserung der Arbeitsmobilität, auch von Menschen außerhalb der EU kommen, flankiert durch die ausreichende Dokumentation und Anerkennung von Qualifikationen. Gute Ansätze in den Mission Letters gibt es hierfür.
Zuletzt bleibt zu hoffen, dass es – nach Bestätigung durch das EU-Parlament – rasch eine arbeitsfähige neue EU-Kommission gibt, die im Zusammenspiel mit den Mitgliedsstaaten zügig eine Umsetzung der Arbeitspläne vornimmt. Denn es geht insgesamt um entscheidende Weichenstellungen für die Zukunft – für Europa und auch für unseren Eisenbahnsektor.
Kontakt
matthias.rohrmann@agv-move.de
Matthias Rohrmann bei LinkedIn
Quellen und weitere Informationen
Neue EU KOM 2024 – 2029 einschl. Mission Letters (englisch).
STAFFER-Abschlussbericht mit Handlungsempfehlungen online unter:
www.railstaffer.eu
Mission Letters der EU-Kommissionspräsidentin (englisch).
Dazugehörige Stellungnahmen von CER und BDA unter:
www.cer.be
https://arbeitgeber.de
Artikel als PDF laden