Für eine starke Zukunft braucht Deutschland eine starke Schiene. Den Verkehrsträger Schiene in Deutschland zum starken Rückgrat für Gesellschaft und Wirtschaft zu machen, ist eine große Aufgabe. Als Deutsche Bahn AG nehmen wir eine besondere Verantwortung dafür wahr. Damit wir unseren eigenen Ansprüchen gerecht werden können, benötigen wir eine klare Innovationsorientierung. Auch in meinem Verantwortungsbereich der Beschaffung müssen wir uns daher bereits heute auf die Suche nach Lösungen von morgen machen.
Um diese Aufgabe gezielt zu erfüllen, hat der Deutsche Bahn-Konzern kürzlich eine neue Dachstrategie veröffentlicht, die sich auf eine starke Schiene ausrichtet und drei Ausbaufelder beinhaltet:
- Die Deutsche Bahn wird robuster – durch mehr Trassen, mehr Züge und mehr Mitarbeitende.
- Die Deutsche Bahn wird schlagkräftiger – durch eine einfach gehaltene organisatorische Aufstellung, klare Abläufe und gemeinsames Anpacken im gesamten Konzern.
- Die Deutsche Bahn wird moderner – durch einen schnelleren Takt, stärkere Vernetzung und smarteren Service.
Stringentes Innovationsmanagement als strategischer Wettbewerbsfaktor in der Beschaffung
Die Beschaffungsorganisation soll als gestaltender, integrierter und akzeptierter Geschäftspartner auf Augenhöhe im Konzern wahrgenommen werden, das ist unser Anspruch. Diesen verknüpfen wir mit dem Bestreben, den Einkauf extern auditiert und auch im branchenfremden Vergleich auf Weltklasse-Niveau zu heben. Dafür gilt es auch, auf sich verändernde Kundenbedürfnisse zu reagieren und technische Neuerungen frühzeitig ausfindig und dann nutzbar für den Konzern zu machen.
Umsichtig, scharfsichtig und weitsichtig: Identifikation von Innovationen
Die Beschaffung bildet die Schnittstelle zum Hersteller- und Lieferantenmarkt und hat daher beim Aufspüren von Innovationen eine Schlüsselrolle inne. Dank der Marktkenntnis unserer Einkäufer erfahren sie zumeist frühzeitig von innovativen Konzepten, Produkten und Dienstleistungen. Auch etablierte Kontakte zu Hochschulen und Forschungsinstituten helfen uns dabei, uns teils noch in deren Entstehungsprozess über Innovationen zu informieren. Unsere internationalen Geschäftsaktivitäten begünstigen zudem, dass wir Neuerungen weltweit so früh wie möglich erkennen und als Ergänzung unseres Portfolios in Betracht ziehen.
Im Konzern nimmt die Beschaffung die Rolle als zentraler Ansprechpartner für Innovationen ein. Denn es ist Aufgabe des Bereiches, die Innovationen, die auf dem Beschaffungsmarkt in unterschiedlichen Reifegraden existieren, zu fördern und direkt an interne Bedarfsträger weiterzugeben. Das bedeutet, dass die Beschaffung stets eng verzahnt und abgestimmt mit den eigenen Bedarfsträgern zu agieren hat.
Bereichsübergreifend Neuerungen von allen Seiten beleuchten: Bewertung von Innovationen
Zur Bewertung von Innovationen nutzt die Deutsche Bahn ein standardisiertes Bewertungssystem, das bereits erfolgreich im Auswahlprozess des DB Supplier Innovation Awards – vergeben auf der Leitmesse für Verkehrstechnik „InnoTrans“ – im Einsatz ist. Vier Bewertungskriterien stehen dabei im Vordergrund: Neuheitsgrad und Einzigartigkeit, Mehrwert und Ergebnisbeitrag, Anwendungspotenzial und Integrierbarkeit sowie Nachhaltigkeit und Umweltschutz.
Die Erstbewertung erfolgt durch die Beschaffung, da diese weitestgehend über die notwendige technische Expertise verfügt. Nach der positiven Erstbewertung einer Innovation nehmen cross-funktionale Teams eine detaillierte Beurteilung vor. Diese bestehen aus Führungskräften verschiedener interner Bedarfsträger und Bereiche sowie aus Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Beschaffung.
Lieferanten die Hand reichen: Umsetzung von Innovationen
Wenn wir uns sicher sind, uns tiefgreifender mit einer Innovation befassen zu wollen, prüfen wir zuallererst, inwieweit die jeweilige Innovation für den Konzern nutzbar gemacht werden kann. Zur Weiterentwicklung oder für erste Tests einer Innovation haben sich bei uns verschiedene Kooperationsmodelle etabliert. Gemeinsam mit dem Lieferanten entscheiden wir uns dann für das passende Modell. Zur Auswahl stehen fallspezifisch ein Pilotprojekt, ein Forschungs- und Entwicklungsauftrag, eine Forschungs- und Entwicklungskooperation oder auch eine direkte Innovationskooperation.
Generell können wir unsere Lieferanten durch professionelles Projektmanagement unterstützen und ihnen mit technischer Expertise zur Hand gehen. Ebenso beraten wir unsere innovativen Lieferanten auf Wunsch zu möglichen Finanzierungsmodellen für ihre Produkte, Konzepte und Dienstleistungen und geben Hilfestellungen für ein professionelles Anforderungsmanagement.
Von der Theorie zur Praxis: erfolgreich realisierte Innovationsprojekte
In der Vergangenheit haben wir in der Beschaffung bereits etliche Innovationsprojekte initiieren und begleiten dürfen. Darunter fallen die Erprobung eines neuen Türsystems mit einer österreichischen Firma und auch die Entwicklungskooperation für eine Klimaanlage mit natürlichen Kältemitteln, um nur zwei Beispiele anzuführen. Zudem haben wir das so genannte GigaPlug-System zur berührungslosen Übertragung großer Datenmengen erfolgreich erprobt (siehe Abbildung).
„Digitale Schiene Deutschland“: Innovation und Digitalisierung in Fahrzeugen und Infrastruktur
Die Eisenbahn ist das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Wo Fortschritt ist, ist Mobilität – und umgekehrt. Damit das auch in Zukunft so bleibt, müssen wir in Deutschland auf digitale Technologien setzen. Die „Digitale Schiene Deutschland“ ist eine Initiative, deren Fokus der Einsatz neuer Technologien im Bahnbetrieb ist – also bei der Automatisierung des operativen Zugbetriebs (zum Beispiel vollautomatisches Fahren), beim Infrastrukturbetrieb und bei der Digitalisierung von Planung und Disposition, das heißt des Verkehrsmanagements.
Ziel ist eine höhere Kapazität im Zugverkehr bei einer deutlich verbesserten Zuverlässigkeit und höherer Effizienz beim Management des betriebsnahen Anlagenbestandes. Partner sind die beteiligten Bahnunternehmen, die öffentliche Hand und der Eigentümer, unsere Verbände und die Bahnindustrie. Ein digitalisierter Bahnbetrieb schafft mehr Kapazität im Netz. Dichtere Zugfolgen durch Millimeter-genaue Echtzeitortung und eine auf künstlicher Intelligenz beruhenden Zugdisposition erlauben eine optimale Nutzung unserer Infrastruktur. Der Kapazitätsgewinn aus der Digitalisierung ermöglicht schlussendlich mehr Verkehr auf der Schiene. Das hilft Klima und Menschen.
Durch das Aus- und Nachrüsten des Netzes sowie unserer Fahrzeuge unter anderem mit moderner Leit- und Sicherungstechnik zahlt die „Digitale Schiene“ unmittelbar auf die Klimaziele im Verkehrsbereich ein. Mit unseren modernen Kraftwerken und Antrieben in den Zügen leisten wir dazu schon jetzt einen wichtigen Beitrag: Bis 2030, so unsere Verpflichtung, wird der Ausstoß der Treibhausgase um 50 Prozent gemindert. Der Anteil an erneuerbarer Energie im Schienenverkehr wird im gleichen Zeitraum auf 70 Prozent steigen.
Die „Digitale Schiene“ steigert zudem dank standardisierter Systeme wie dem European Train Control System (ETCS) und digitalen Stellwerken die Wirtschaftlichkeit für den gesamten Bahnbetrieb und sorgt für Interoperabilität in ganz Europa.
Blick in die Werkstatt: European Train Control System (ETCS)
Die Digitalisierung intelligenter Steuerungstechnik wie dem europäischen Zugsicherungssystem ETCS ermöglicht in Verbindung mit einem Verkehrsmanagement auf Basis von digitalisierten Planungs- und Dispositionsprozessen eine dichtere Zugfolge, einen flexibleren Bahnbetrieb und in Summe eine erheblich bessere Nutzung der Infrastruktur. Darüber hinaus bildet ETCS eine solide Basis für viele Zukunftstechnologien, etwa für hoch entwickelte Sensorik für die Objekterkennung oder leistungsfähige Echtzeit-Ortungssysteme, die notwendig sind, um den Bahnbetrieb in Zukunft vollständig zu digitalisieren.
Die wichtigste Aufgabe von ETCS besteht darin, dafür zu sorgen, dass ein Zug an einem definierten Gleisabschnitt die dort zugelassene beziehungsweise vorgesehene Geschwindigkeit einhält. Dazu werden Daten zur Strecke an den Zug übermittelt. Konkret sind das die zulässige Höchstgeschwindigkeit sowie der nächste Punkt, an dem das Fahrzeug wieder anhalten muss. In den Zügen vergleicht der Bordcomputer das gefahrene Tempo mit der von den Balisen (Informationspunkten) oder dem Radio Block Center (RBC) übermittelten zulässigen Höchstgeschwindigkeit. Er gleicht die Entfernung zum Ziel ab und bremst bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung den Zug automatisch.
Die Weichen für die Zukunft stellen: Digitale Stellwerke
ETCS wird künftig von digitalen Stellwerken (DSTW) gesteuert. Digitale Stellwerke ersetzen mit digitaler Leitungstechnik die aktuell 100 verschiedenen Stellwerkstypen, benötigen weniger Standorte und bieten attraktive Arbeitsplätze für die Eisenbahner der Zukunft.
Stellwerke, die heute noch in zahlreichen Bauarten – vom mechanischen bis zum elektronischen Stellwerk – über die Republik verteilt sind, werden sukzessive durch die innovative Technik ersetzt. Das ermöglicht einen verlässlicheren und effizienteren Bahnbetrieb. Charakteristisch für die neue Stellwerksarchitektur ist, dass die Stellbefehle des Fahrdienstleiters digital über Netzwerktechnik übermittelt werden. Die bisher erforderlichen individuellen Verbindungen zu einzelnen Stellelementen über teils kilometerlange Kabelbündel entfallen. Durch die beim DSTW bestehende Netzwerkverbindung per Datenleitung können beispielsweise Weichen zudem in deutlich größeren Entfernungen gesteuert werden.
Europas erstes digitales Stellwerk Annaberg-Buchholz, das bereits am 19. Januar 2018 seinen Betrieb aufnahm, markiert den Startpunkt für die Weiterentwicklung und die bundesweite Umsetzung der neuen innovativen Stellwerksgeneration.
Zielbild klar vor Augen: „Digitalisierung Bahnbetrieb“ im Gesamtsystem Deutschland
Im Konzernprogramm „Digitalisierung Bahnbetrieb“ der Deutschen Bahn AG steht derzeit die Entwicklung einer funktionalen und technischen Architektur mit allen benötigten Schnittstellen im Fokus, die sich an den Prozess des Europäischen Komitees für elektrotechnische Normung (CENELEC) anlehnt. Ein Pilot-Projekt dazu findet gerade bei der S-Bahn Hamburg statt, um die Machbarkeit der Digitalisierung des Bahnbetriebes im Gesamtsystem Deutschland zu untersuchen. Dieses Projekt wird uns wichtige Impulse für die Ausgestaltung und Validierung des Zielbildes der Digitalisierung des Bahnbetriebes und der Architektur liefern.
Neue Verträge und Vergabekonzepte: Innovationen in der Infrastruktur
Der Bereich Beschaffung Infrastruktur unterstützt die Digitalisierung der Leit- und Sicherungstechnik signifikant und gestaltet darauf ausgerichtet neue Verträge und Vergabekonzepte. Bereits im Jahr 2011 machten wir uns auf den Weg zur Digitalisierung der Schiene und kommen seither gut voran. Die Vertragskonstellationen der Referenzimplementierungs- und Vorserienprojekte beinhalten Innovationspartnerschaften zwischen Lieferanten und der DB Netz AG mit dem Ziel der Entwicklung von Standards. Hier konnten wir als DB Beschaffung in Abstimmung mit den Konzernjuristen einen großen Anteil der Verhandlungen zur Unterstützung des Geschäftsfeldes DB Netz steuern. Aktuell schaffen wir die Voraussetzungen für die Umsetzung des Starterpaketes „Digitale Schiene Deutschland“ und des Serienrollouts, um unsere Beschaffung optimal auf die neue Technik auszurichten.
Gemeinsam stark mit unseren Lieferanten: Der DB Supplier Innovation Award 2020
Auch 2020 wird die Deutsche Bahn im Rahmen der „InnoTrans“ wieder den Supplier Innovation Award an ihren innovativsten Lieferanten überreichen. Die Bewerbungen dafür können ab Oktober 2019 eingereicht werden. Die Bewertung übernimmt eine interne Fachjury unter wissenschaftlicher Begleitung durch das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI).
Über den Autor
Uwe Günther, Jahrgang 1957, ist seit 2014 Chief Procurement Officer der Deutschen Bahn AG mit Sitz in Berlin. In dieser Funktion verantwortet er ein Einkaufsvolumen von 20 Milliarden Euro des Konzerns, von DB Schenker und DB Arriva. Zuvor war er bei der Deutschen Bahn als Leiter Beschaffung Infrastruktur und Leiter Beschaffung Bauliche Anlagen tätig. Als Ingenieurökonom war Uwe Günther vor seiner Zeit bei der Deutschen Bahn in leitenden Einkaufsfunktionen bei der Siemens AG Rail Automation, Rolls-Royce Deutschland GmbH und bei Elektro Apparate Werke Berlin beschäftigt. Seit 2018 fungiert Günther auch als Mitglied des Bundesvorstands des Bundesverbands Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik e.V. (BME), dem Fachverband für Einkäufer, Supply Chain Manager und Logistiker in Deutschland und Kontinentaleuropa. Bis zum vergangenen Jahr war er zudem Chairman der Railsponsible-Initiative, die ihren Schwerpunkt auf nachhaltige Beschaffung in der Eisenbahnindustrie legt. Uwe Günther ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.
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