Die Anforderungen von Seiten der Gesellschaft, Politik und Märkten an den europäischen Bahnsektor sind durch einzelne privatwirtschaftlich agierende Unternehmen allein nicht zu stemmen. Daher arbeiten Bahnindustrie, Betreiber und EU-Kommission unter dem Dach des Konsortiums Europe’s Rail zusammen, um Innovationen systematisch zu implementieren. Ziel ist die Attraktivität, Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der Schiene nachhaltig zu stärken und Zielvorgaben der Deutschen Regierung sowie der EU-Kommission zur Verkehrsverlagerung auf die Schiene erfüllen zu können. Darüber hinaus erwartet die Deutsche Bahn von ihrer Beteiligung einen erheblichen Beitrag zur Umsetzung der Konzernziele.
Von 2015 bis 2024 ist die Deutsche Bahn AG mit einem Gesamtprojektvolumen in Höhe von 43,6 Mio. Euro Mitglied der EU-Technologieinitiative „Shift2Rail“. Diese Initiative hat unter anderem die Ziele, durch Forschung- und Entwicklungsaktivitäten
- zu einer Verdopplung des Transportvolumens im europäischen Schienengüterverkehr bis 2050 beizutragen,
- zur Verdopplung des Passagieraufkommens im europäischen Hochgeschwindigkeitsverkehr bis 2030 beizutragen,
- den europäischen Schienenverkehr zu harmonisieren sowie einen einheitlichen europäischen Eisenbahnraum (Single European Railway Area, SERA) zu entwickeln und umzusetzen.
Dabei ist Shift2Rail das erste europäische Gemeinschaftsunternehmen (Public Private Partnership), bestehend aus der Europäischen Kommission, Bahnindustrie, Wissenschaft sowie weiteren europäischen Bahnen. Shift2Rail blickt auf zahlreiche Forschungserfolge zurück, die einen nachhaltigen Einfluss auf den Bahnsektor hinterlassen haben. Die DB ist von Beginn an beteiligt und hat sich umfänglich in die Innovationsprojekte eingebracht. Das Programm für den Güterverkehr wird sogar durch die DB Cargo geleitet. Es wurden wichtige DB-Projekte, wie etwa die Digitale Automatische Kupplung, Automatisches Fahren, offene Systemarchitektur für die Leit- und Sicherungstechnik, alternative Antriebe im Regionalverkehr und umweltfreundliche Klimaanlagen, in das Programm integriert.
Da die EU-Kommission die Innovationsprogramme nur jeweils für eine Haushaltsperiode aufsetzt, wurde nun „Europe’s Rail“ als das Nachfolgeprogramm von Shift2Rail gegründet.
Ziele und Handlungsfelder
Aufbauend auf den Ergebnissen des Vorläufers „Shift2Rail“ zielt die Partnerschaft darauf ab, die Forschung, Entwicklung und Einführung innovativer Technologien und betrieblicher Lösungen im Schienenverkehr zu beschleunigen, die für die Erfüllung der verkehrlichen Ziele der Europäischen Union (unter anderem der Green Deal) relevant sind:
- steigender Nachfrage gerecht zu werden,
- Kosten zu senken und die Verfügbarkeit zu erhöhen sowie
- die Wettbewerbsfähigkeit des Eisenbahnsektors und der europäischen Eisenbahnzulieferindustrie zu stärken.
EU-Rail besteht dabei, anders als noch Shift2Rail, aus zwei Säulen: dem neu hinzugekommenen System Pillar sowie dem Innovation Pillar. Ersterer definiert unter anderem eine funktionale Systemarchitektur, die eine europaweite interoperable und modulare technische Ausrüstung von Fahrzeugen (z.B. Digitale Automatische Kupplung) und digitaler Infrastruktur (fahrzeugseitige und streckenseitige Leit- und Sicherungstechnik) ermöglicht. Mit dem System Pillar wird vor allem die Entwicklung und Umsetzung des SERA vorangetrieben.
Im Innovation Pillar hingegen erfolgt die Umsetzung von Forschungsprojekten in sechs Themenbereichen, den sogenannten Flagship Areas:
(1) European Rail Traffic & Mobility Management & Digital Twin
Ziel: Die Flexibilität, Effizienz, Widerstandsfähigkeit und Kapazitätsanpassung des europäischen Schienennetzes drastisch zu verbessern
(2) Digital & Automated Train Operations
Ziel: Die Chancen von Digitalisierung und Automatisierung zu nutzen und die entsprechenden Systeme dafür zu entwickeln
(3) Integrated Asset Management
Ziel: Bereitstellung neuer innovativer technischer Anforderungen, Methoden, Lösungen und Dienstleistungen zur Minimierung der Lebenszykluskosten von Anlagen
(4) Zero Emission & Silent Rail System Solutions
Ziel: Bereitstellung neuer innovativer Produkte und Dienstleistungen, um den Gesamtenergieverbrauch und die Umweltauswirkungen des Eisenbahnsystems zu minimieren
(5) Competitive Digital Green Rail Freight
Ziel: Steigerung der Attraktivität des Schienengüterverkehrs durch Kapazitätserhöhung sowie eine deutliche Verbesserung des grenzüberschreitenden Betriebs und des multimodalen Kundendienstes
(6) Regional Rail Services
Ziel: Die langfristige Rentabilität der regionalen Eisenbahnen zu gewährleisten
(7) Innovation on New Approaches for Guided Transport Modes
Ziel: Nicht-traditionelle und neu entstehende flexible und/oder geführte Hochgeschwindigkeitsverkehrssysteme zu erforschen
Im Zentrum stehen dabei Innovationen, die die Digitalisierung und Automatisierung des Betriebs sowie der Instandhaltung im Schienenverkehr voranbringen. Wurden im Vorläuferprogramm Shift2Rail schon erste Meilensteine erreicht, sollen diese Innovationen in EU-Rail nun bis zur Marktreife gebracht werden.
EU-Rail besteht aus 25 Mitgliedern der europäischen Eisenbahnindustrie und Betreiberfirmen (10 Eisenbahnen und Infrastrukturbetreiber, 2 Forschungsinstitute und 13 Zulieferer).
Innovationsvolumen
Die Forschungs- und Entwicklungsprojekte des Innovation Pillars umfassen ein Gesamtvolumen von 1,18 Mrd. Euro (davon 550 Mio. Euro Förderung). Darüber hinaus beinhaltet EU-Rail den System Pillar mit einem Gesamtvolumen von zirka 50 Mio. Euro. Als Gründungsmitglied von EU-Rail wird der DB für den Innovation Pillar ein Gesamtprojektvolumen in Höhe von 55,4 Mio. Euro für den Zeitraum 2022 bis 2030 in Aussicht gestellt. Die DB bringt hier insbesondere Personalleistungen in die Projektarbeit ein.
Steuerungsgremien von EU-Rail
- Das EU-Rail Governing Board (Verwaltungsrat) bestimmt als oberstes Entscheidungsgremium die strategische Ausrichtung und ist letztverantwortlich für alle Entscheidungen bezüglich Europe’s Rail inklusive der Ernennung des Executive Directors. Im Governing Board sitzen die EU-Kommission, Vertreter der Gründungsmitglieder inklusive der DB AG sowie Vertreter der Assoziierten Mitglieder.
- Das operative Geschäft, einschließlich der Programmsteuerung von EU-Rail, wird durch den Executive Director verantwortet.
- Das System and Innovation Programme Board ist für die Ermittlung von Risiken und Chancen sowie für entsprechende Abhilfemaßnahmen zuständig und koordiniert die Schnittstelle zwischen den Flagship Areas zum System Pillar.
- Die Steering Commitees für die jeweiligen Flagship Areas treffen Entscheidungen und eskalieren falls nötig Risiken, Herausforderungen und Möglichkeiten an das System and Innovation Programme Board.
Beteiligung der Deutschen Bahn
Das Programm EU-Rail im Bereich Technik der DB trägt die Gesamtverantwortung für die DB-Projekte und übernimmt die Vertretung in den Gremien. Das Projektportfolio zahlt auf die Ziele der Digital- und Technikstrategie und der Starken Schiene der DB ein. Darüber hinaus gilt dies auch für die von der EU- Kommission im Green Deal formulierten Ziele bezüglich Reduktion von CO2-Emissionen und Verkehrsverlagerungen.
Die DB setzt dabei drei Themenschwerpunkte in EU-Rail:
- Die Entwicklung und Erprobung von Systemen zum vollautomatisierten Betrieb von Fahrzeugen. DB Netz wird hier mit Partnern insbesondere an Aspekten der Fahrzeugsteuerung basierend auf Objekterkennung, -klassifizierung und -bewertung arbeiten. Die Ergebnisse zahlen direkt auf die Ziele der Digitalen Schiene Deutschland (offene Architektur für LST und vollautomatisches Fahren) ein.
- DB Cargo arbeitet mit Partnern an Technologien und Dienstleistungen, die die Digitalisierung des Schienengüterverkehrs zum Ziel haben. Dabei stehen die Weiterentwicklung, Erprobung und Vorbereitung des Roll-Outs der Digitalen Automatischen Kupplung im Mittelpunkt.
- Um das Ziel der DB zu erreichen, im Jahr 2040 CO2-neutral zu sein, sind Fahrzeuge mit Dieselantrieb durch alternative Antriebe zu ersetzen. Im Personenverkehr ist hier insbesondere für lange Strecken auf nicht-elektrifizierten Abschnitten aktuell noch keine Lösung am Markt. Die DB plant gemeinsam mit Herstellern, Fahrzeuge im Betrieb zu erproben. Dabei sind für die Eisenbahnverkehrsunternehmen auch „Detailfragen“ wie die Harmonisierung von Ladelösungen wichtig.
Beteiligte Gesellschaften der DB in EU-Rail sind neben dem T-Ressort die DB Cargo, DB Netz, DB Regio, DB Station&Service, DB International, DB Systel und DB Fernverkehr, deren Engagement sich in den einzelnen Flagship Areas wie folgt darstellt:
- Network & Mobility Management
Verbesserung des Kundenerlebnisses durch seamless connectivity (durchgehendes WLAN-Signal an Bahnhöfen und Zügen) und einen barrierefreien Zugang zum System Bahn (3,9 Mio. Euro) - Digital & Automated Train Operations
Erprobung von hochautomatisierten Fahrzeugen: Automatisierter Fahrbetrieb (Automatic Train Operation, ATO) bis Automatisierungsgrad (Grade of Automation, GoA) 4 durch DB Netz und DB Cargo, Weiterentwicklung der Leit- und Sicherungstechnik durch DB Netz sowie Verankerung von RCA (Reference Command, Control and Signalling Architecture) und OCORA (Open CCS On-Board Reference Architecture) in Europe‘s Rail (20,55 Mio. Euro) - Intelligent & Integrated Asset Management
Entwicklung und Erprobung einer geschäftsfeldübergreifenden Lösung zur visuellen Befundung von Fahrzeugen unter Nutzung von künstlicher Intelligenz (9,8 Mio. Euro) - A Sustainable and Green Rail System
Erprobung von batterieelektrischen Fahrzeugen im Regelbetrieb sowie Begleitung von Tests zu Schutzmaßnahmen zur Reduktion von Bahnlärm (3,7 Mio. Euro) - Competitive Digital Rail Freight Services
Entwicklung und Erprobung eines digitalen Güterzugs mit der Digitalen Automatischen Kupplung als zentrales Element (12,6 Mio. Euro) - Transversal Topic: Digital Enablers
Digitale und automatisierte Planungs-/Produktionsprozesse für die Infrastruktur unter Verwendung von EULYNX (Europäische Initiative von Infrastrukturbetreibern) und BIM (Building Information Modeling) (4,85 Mio. Euro)
Ausblick
Die strategische Neuausrichtung sowie das deutlich erhöhte finanzielle Fördervolumen zeigen, dass die EU dem Eisenbahnsektor eine hohe Bedeutung für die Zukunft zukommen lässt. Gleichwohl ist dieses Engagement verbunden mit eindeutigen Erwartungen. Einsetzbare Innovationslösungen sollen in einer für den Eisenbahnbereich kurzen Zeit verfügbar sein. Das Jahr 2025 wird hier als Meilenstein gesehen.
Da auch andere Verkehrsbereiche an nachhaltigen Konzepten arbeiten, verstärkt dies die Notwendigkeit für alle Beteiligten, sich auf die Leuchtturmprojekte zur Digitalisierung und Automatisierung zu fokussieren und in kurzer Zeit vorzeigbare Ergebnisse zu liefern. Wir sind sehr zuversichtlich, das EU-Rail in diesem Sinne in den nächsten Jahren dazu beitragen wird, dass der Eisenbahnsektor die aufgezeigten Erwartungen erfüllen wird.
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