In vielen wissenschaftlichen Fachdisziplinen sind deren Vertreter in so genannten wissenschaftlichen Gesellschaften (engl. Societies) oder Vereinigungen (engl. Associations oder Unions) organisiert. Diese können international, national, regional oder zu einem Sprachraum gehörend aufgestellt sein. Zu den ältesten deutschen wissenschaftlichen Gesellschaften gehört laut Wikipedia[1] die Astronomische Gesellschaft, die 1800 gegründet wurde.
Auf eine so lange Tradition kann die Vereinigung der Universitätsprofessuren[2] des Eisenbahnwesens (VUE) nicht zurückblicken. Allerdings geht sie, wie viele wissenschaftliche Ingenieurgesellschaften, auf einen Freundeskreis zurück, der sich seit 1977, mit nur einer Unterbrechung im Jahr des Mauerfalls 1989, regelmäßig trifft. In Stuttgart als Gruppe der deutschsprachigen Eisenbahnprofessoren gegründet, ist sie vielleicht dem ein oder anderen Leser unter diesem Namen bekannt. Es handelt sich dabei um aktuell 21 aktive Universitätsprofessoren und eine Professorin, die im Hauptamt das Eisenbahnwesen oder ein Teilgebiet davon in Forschung und Lehre repräsentieren. Zudem gehören 29 im Ruhestand befindliche ehemalige Professoren der VUE an.
Eine weitere Voraussetzung für die Mitgliedschaft ist das Beherrschen der deutschen Sprache. Bereits lange vor der Wende waren die ostdeutschen und auch osteuropäischen Kollegen mit einbezogen worden. Derzeit befinden sich unter den aktiven Kollegen drei von österreichischen Universitäten sowie jeweils ein Vertreter aus der Schweiz und aus Schweden. Zwei Professuren in Deutschland sind aktuell unbesetzt. Die Berufungsverfahren laufen und die VUE wird in Kürze zwei neue Mitglieder in ihrem Kreis willkommen heißen können. Als VUE treten die Eisenbahnwissenschaftler seit ihrer Herbsttagung 2017 in München auf.
Wie viele Fachgesellschaften treffen sie sich einmal jährlich rotierend an den Standorten ihrer Mitglieder. Hier werden sowohl aktuelle Themen, wie die wissenschaftlichen und politischen Fragestellungen im Fachgebiet, als auch Fragen der Nachwuchsförderung und der Wiederbesetzung von Professuren besprochen. Die Herbsttagung hat aber auch einen gesellschaftlichen Charakter. So sind die Lebenspartner mit dabei und es werden gemeinsam fachliche und kulturelle Besichtigungen durchgeführt. Somit entstehen auch persönliche Freundschaften über das Berufliche hinaus.
Zum Herbsttreffen des letzten Jahres fand ein Führungswechsel bei der VUE statt. Der langjährige Sprecher, Professor Dr.-Ing. Christoph Thiel von der BTU Cottbus, trat zurück und der Autor dieses Artikels wurde zu seinem Nachfolger gewählt. Zudem wurde erstmals ein stellvertretender Sprecher gewählt und zwar Professor Dr.-Ing. Rainer König von der TU Dresden.
Die zweite jährliche Tagung der VUE findet im Frühjahr statt und zwar traditionell bei der Deutschen Bahn AG, das heißt, in den letzten Jahren am Potsdamer Platz in Berlin-Mitte. Hier nehmen weitgehend nur die aktiven Mitglieder teil, da es in den Gesprächen und Vorträgen um die aktuellen Themen der Branche geht. Die DB AG lässt es sich nicht nehmen, den VUE-Kollegen ihre neuesten Pläne und Projekte vorzustellen, die dann gemeinschaftlich diskutiert werden. Seitens der DB AG finden sich neben kompetenten Projektleitern auch hochrangige Manager bis hin zu Vertretern des Vorstands zu diesem Treffen ein.
Ziele der VUE
Auf der letzten Frühjahrstagung in Berlin wurde folgende übergeordnete Vision[3] für die VUE von den anwesenden Mitgliedern formuliert:
„Wir wollen, dass das System Bahn[4] wieder einen größeren Stellenwert in der Gesellschaft einnimmt.“
Der dahinführende Handlungsauftrag, in Unternehmensstrategien Mission genannt, lautet:
„Wir kümmern uns um die Zukunftsfähigkeit des Systems Bahn.“
Folgende Aufgaben und Ziele wurden formuliert:
1. Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
Die Schienenverkehrscommunity ist gemessen an anderen Industriebereichen und Wissenschaftsdisziplinen relativ klein. Entsprechend schwierig gestaltet sich oft die Suche nach geeigneten Bewerbern für die Wiederbesetzung einer Professur. Neben ausgewiesenen wissenschaftlichen Fähigkeiten und Lehrerfahrung sollte ein Professor des Eisenbahnwesens entsprechende Erfahrung in der einschlägigen Wirtschaft mitbringen. Da die durchschnittliche Promotionsquote der VUE aktuell unter Eins pro Professur und Jahr liegt, ist die Zahl infrage kommender Eisenbahnwissenschaftler gering. Innerhalb der VUE unterstützen sich die Mitglieder gegenseitig bei der Suche nach solchen Persönlichkeiten.
Gleiches gilt für die Suche nach geeigneten wissenschaftlichen Mitarbeitern mit dem Ziel der Promotion. Nicht immer stehen im eigenen Haus genug Nachwuchsingenieure zur Verfügung, während ein anderer Kollege gegebenenfalls nicht alle Bewerber einstellen kann. Dann empfiehlt man den „überzähligen“ Kandidaten, um ihn in der Branche zu halten, gern dem Kollegen. Außerdem unterstützen sich die VUE-Mitglieder gegenseitig bei der Übernahme der Co-Referate für Dissertationen. So erfährt man gleichzeitig etwas mehr über die aktuellen Forschungstätigkeiten des Kollegen.
Ein Ziel, das sich die VUE für die nahe Zukunft vorgenommen hat, ist die Förderung der Netzwerkbildung unter den wissenschaftlichen Mitarbeitern der verschiedenen Standorte.
2. Weiterentwicklung in der Grundlagenforschung unter Beibehaltung der starken wirtschaftsnahen Forschung
Schienenverkehrsforschung ist in großen Teilen angewandte Forschung. Die Mehrzahl der Projekte der VUE-Mitglieder wird direkt von der Wirtschaft beauftragt oder in Kooperation mit dieser von der Europäischen Union (EU) beziehungsweise Bundes- oder Landesministerien gefördert. Dennoch gibt es eine Reihe von Forschungsfragen, die durchaus Grundlagencharakter haben und sich somit für eine Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gut eignen.
Die Eisenbahnprofessoren wollen daher mehr eisenbahntechnische Grundlagenforschung durchführen und sich auch in der Selbstverwaltung der DFG stärker engagieren. Dazu gehört auch das Ziel, neben den zahlreichen deutschsprachigen Veröffentlichungen in nationalen Fachzeitschriften, auch international in englischer Sprache zu publizieren. Schließlich ist der Eisenbahnmarkt global und Deutschland als Technologieführer sollte das Licht seiner Kompetenzen nicht „unter den Scheffel stellen“.
Daneben ist es Ziel der VUE, durch mehr gemeinsame Forschungsprojekte zwischen den Professuren mehrerer Universitätsstandorte das Netzwerk weiter zu stärken.
3. Unterstützung der Verkehrspolitik
Nicht zuletzt sieht sich die VUE als Unterstützer und Ratgeber der Politik und der einschlägigen Verbände hinsichtlich Fragen der Mobilität und der diesbezüglichen Herausforderungen. Dazu gehören die Mitarbeit in Beiräten und Ausschüssen sowie die Durchführung von Studien im Auftrag öffentlicher Ausschreibung der Ministerien und ihrer nachgeordneten Ämter. Auch international engagiert sich die VUE, zum Beispiel in der ERRAC, dem Beratungsgremium für die Eisenbahnforschung in der Europäischen Union.
Standorte und Struktur der VUE
Eisenbahnprofessuren gibt es derzeit an acht deutschen Universitäten. Die meisten davon, nämlich sechs, an der TU Dresden (Abbildung 1).
Die Übersicht zeigt auch die Standorte der aktuellen ausländischen Kollegen. Allein die 19 Eisenbahnlehrstühle und -institute in Deutschland verfügen über ein Forschungspotenzial von mehr als 200 wissenschaftlichen Mitarbeitern, die mit dem Ziel der Promotion für durchschnittlich fünf Jahre an den Universitäten beschäftigt sind. Ganz wenige Mitarbeiter bekleiden eine unbefristete Stelle und wirken dann meist ihr ganzes Berufsleben an ihrer Universität. Hinzu kommen etwa genauso viele studentische Hilfskräfte, aus denen die Lehrstühle das Gros ihres wissenschaftlichen Nachwuchses rekrutieren.
Die übergeordnete fachliche Zuordnung der VUE-Professoren zeigt Abbildung 2 auf der folgenden Seite. Das Eisenbahnwesen ist traditionell in die Bereiche Fahrzeuge sowie Infrastruktur (oder Bau) und Betrieb unterteilt. Während an den ostdeutschen Universitäten inklusive Berlins die Vertreter aller drei Teildisziplinen in verkehrswissenschaftlichen Fakultäten zusammen mit anderen Verkehrswissenschaftlern organisiert sind, besteht in den alten Bundesländern die traditionelle Zuordnung zu den Ingenieursdisziplinen Maschinenbau, Elektrotechnik und Bauingenieurswesen. Dabei ist der klassische Schienenfahrzeugtechniker Maschinenbauer und nur wenige, derzeit zwei Kollegen, kommen aus der Elektrotechnik (Abbildung 2).
Die Bereiche Eisenbahnbau- und -betrieb befinden sich im Westen Deutschlands in den Bauingenieursfakultäten. Sie bilden mit zwölf Kollegen die Mehrheit der aktiven VUE-Mitglieder. Allerdings widmen sich nur zwei von ihnen im Schwerpunkt dem Bau der Infrastruktur. Die Fahrzeugtechniker sind nur sieben Personen, von denen sich nur einer ausschließlich elektrotechnischen Themen widmet, allerdings dann auch ganzheitlich unter Einbeziehung der Infrastruktur.
Fachliche Ausrichtung und Forschungsfelder
An den verschiedenen Universitätsstandorten wird zu vielen ähnlichen Themen geforscht. Trotzdem ist die Eisenbahntechnik so breit und vielfältig, dass auch jeder seine Alleinstellungsmerkmale besitzt. Viele Themen sind zudem allein gar nicht schnell genug zu bearbeiten. Da braucht es Kooperationen zwischen den Standorten.
Tabelle 1 auf der linken Seite zeigt die Kompetenzen der fünf deutschen Universitäten mit Vertretern der Fahrzeugtechnik. Dresden, mit drei Professuren auf diesem Gebiet, deckt hier sehr viel ab. Aber auch die Standorte Berlin und Aachen, beide mit einer langen Fahrzeugtechniktradition, forschen auf vielen Gebieten der Schienenfahrzeugtechnik. Aachen ist zudem weltweit eine von zwei Universitäten (die andere liegt in China), die eigene Fahrzeuge und Gleise mit Anschluss zum nationalen Vollbahnnetz besitzt. Die jüngeren Lehrstühle in Karlsruhe und Stuttgart haben zwar weniger Gebiete, auf denen sie forschen, besitzen aber mit den Themen Bahn- und EU-Politik (Stuttgart) und Mechatronik (KIT) wichtige Alleinstellungsmerkmale.
Neben den traditionellen Themen, wie Rad/Schiene-Interaktion und Fahrzeugdynamik, Fahrwerk-, Antriebs- und Bremstechnik treten zunehmend neue Forschungsgebiete in den Vordergrund, die durch die Digitalisierung und die CO2-Problematik forciert werden.
Die Kompetenzen der Eisenbahnbau- und -betriebstechniker zeigt Tabelle 2 (links). Da aktuell zwei Lehrstühle unbesetzt sind, fehlen die Angaben von der TU Berlin. Auch auf diesem Gebiet deckt die TU Dresden mit drei Kollegen den größten Bereich ab. Aber auch Aachen, Braunschweig, Darmstadt und Stuttgart forschen seit Jahren an vielen Themen. Die TU München ist sehr erfolgreich im Bereich des konstruktiven Oberbaus, während der kleine Lehrstuhl in Cottbus geschickt die Nischen nutzt. Aachen, Darmstadt, Dresden und – deutlich kleiner – auch Berlin verfügen darüber hinaus jeweils über große H0-Modelleisenbahnanlagen, mit denen man alle denkbaren Betriebsszenarien mit uralten bis zu modernsten Stellwerkstechniken simulieren kann. (Der Autor ist sich bewusst, dass er mit Sicherheit nicht alle Kompetenzfelder der Kollegen vollständig aufgeführt hat.)
Zusammenfassung
Mit ihrer Umbenennung im Herbst 2017 und der Neustrukturierung ein Jahr später hat sich die Vereinigung der Universitätsprofessuren des Eisenbahnwesens VUE eine Strategie mit Vision, Mission und konkreten Zielen gegeben. Intensivere Kooperation untereinander, Erhöhung der wissenschaftlichen Sichtbarkeit und Internationalisierung stehen oben auf der Agenda. Dennoch ist der Kernmarkt für die Eisenbahnprofessoren Deutschland mit seiner bedeutenden Bahnindustrie aus Herstellern, Zulieferern und Betreibern.
Die DB AG als größtes europäisches Eisenbahnverkehrsunternehmen ist und bleibt ein wichtiger Partner für die VUE. Vielmehr noch: Vor dem Hintergrund der Ziele der Bundesregierung, 50 Prozent mehr Fahrgäste und merklich mehr Güter auf die Schiene zu bringen, sind alle Stakeholder der Branche gemeinsam aufgefordert, das System Bahn attraktiver und leistungsfähiger zu machen. Dazu können und wollen die Mitglieder der VUE einen nennenswerten Beitrag leisten.
Quellen
[1] Wikipedia: Wissenschaftliche Gesellschaft[2] Mit Rücksicht auf die gerade in der deutschen Amtssprache geforderte „gendergerechte Ausdrucksweise“ wurde nicht die Bezeichnung des Titels der Mitglieder, sondern der Funktion, die sie bekleiden, gewählt. In diesem Aufsatz wird mit Rücksicht auf die Lesbarkeit des Textes die männliche Form als für alle Geschlechter geltend angewandt.
[3] Langfristige Strategie
[4] Darunter werden alle Ausprägungen des spurgeführten Verkehrs verstanden.
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