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Buchrezension

Ein Bundesbahner bei der Reichsbahn

Quelle: Verlag Das Neue Berlin
Quelle: Verlag Das Neue Berlin

Mit der Bahnreform 1994 fusionierten Reichsbahn und Bundesbahn zur Deutschen Bahn AG. Damit wurde die Zusammenführung beider deutscher Staatsbahnen, die 1990 mit der Wiedervereinigung begonnen hatte, zum Abschluss gebracht. Zeitzeuge Wolfgang Scherz hat über diesen historischen Abschnitt nun ein Buch geschrieben, das für Diskussionen sorgt.

Anfang 1990 ging der Eisenbahner Wolfgang Scherz von Frankfurt am Main nach Berlin-Lichtenberg und war – zunächst als Verwaltungsexperte, später dann als Assistent des damaligen Bundesbahn-Präsidenten und Reichsbahn-Generaldirektors Heinz Dürr – an der Fusion der beiden deutschen Staatsbahnen beteiligt. Nun hat Scherz, dessen berufliche Karriere ihn bei der Bahn später bis in die Vorstandsetage der DB Netz AG führen sollte, ein Buch über diese Zeit geschrieben.

„Auf neuen Gleisen. Die Abwicklung der Deutschen Reichsbahn“, heißt es und ist im Verlag Das Neue Berlin erschienen. Auf gut 200 Seiten und 11 Kapiteln schildert Scherz dort seine Zeit in Ost-Berlin von 1990 bis 1994 mit einem anschließenden kurzen Aus- bzw. Rückblick auf die Jahre danach.

Der Autor beschreibt im ersten Teil seines Buches, wie er von der Bundesbahn-Generaldirektion entsandt wurde – und was ihm dabei geschah. Der Auftrag: Aus den beiden Staatsbahnen sollte wieder eine einzige werden, besser und moderner als ihre Vorgänger. Und als klinge dieser Auftrag nicht schon ambitioniert genug, beansprucht er für diese Geschichte auch noch eine gewisse Exklusivität: „Ich kann für mich reklamieren, der Einzige der vier Gesandten der Bundesbahn gewesen zu sein, der (…) den Prozess der Zusammenführung beider Bahnen ununterbrochen bis zu seinem Ende im Januar 1994 mit begleitet hat“, schreibt Scherz.

Sachbuch oder Erinnerungen?

Allein, worum handelt sich bei dieser Geschichte eigentlich genau? Reden wir hier über ein Sachbuch oder doch über die persönlichen Erinnerungen eines ehemaligen Eisenbahners? In einem Sachbuch hätte man erwarten können, dass diese Aussage in ihren historischen Kontext gesetzt wird: Es war ja nicht so, dass allein Wolfgang Scherz und drei weitere Kolleg*innen von der Bundes- zur Reichsbahn geschickt worden wären, um mal eben die Zusammenführung der beiden Staatsbahnen zu organisieren. Daran waren unzählige Bahner*innen aus Ost und West, im Kleinen wie im Großen beteiligt – auf allen möglichen Ebenen und in den unterschiedlichsten Formen der Zusammenarbeit.

Zumal „Auf Neuen Gleisen“, das muss man klar sagen, den Ansprüchen an ein Sachbuch auch nicht gerecht wird. Das geht schon mit dem Untertitel des Buches los: „Die Abwicklung der Reichsbahn“ ist keine korrekte Aussage. Die Deutsche Reichsbahn wurde nicht „abgewickelt“, sondern mit der Deutschen Bundesbahn fusioniert. Das ist etwas völlig anderes, und sollte der Autor diesen Satz provokativ verwendet haben wollen, so hätte er diesen später im Verlauf des Buches noch einmal aufgreifen und erläutern müssen – was aber nicht der Fall ist.

Fragwürdig sind zum Beispiel auch die Ausführungen zum Eisenbahnfährhafen Mukran auf der Insel Rügen: Dieser sei „einzig deshalb gebaut“ worden, um die militärischen Transporte der russischen Streitkräfte über die Ostsee zu führen. Nach Informationen, die der Deine Bahn-Redaktion vorliegen, entspricht dies aber nicht den Tatsachen. Demnach wickelten die russischen Streitkräfte bis 1989 zunächst keine militärischen Transporte über diese Route ab, deren Bedeutung bis dahin im zivilen Güter- und Handelsverkehr zwischen der DDR und der UdSSR lag.

„Vorurteilsfrei“ – oder doch nicht?

Im zweiten Teil seines Buches beschreibt Scherz seine Zeit als persönlicher Assistent von Heinz Dürr. Der ehemalige AEG-Manager – zunächst Bundesbahn-Präsident und Generaldirektor der Reichsbahn in Personalunion – wurde 1992 zum gemeinsamen Vorstand beider Bahnen und ab 1994 zum Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bahn AG berufen. Seine Aufgabe war es, die Bundes- und die Reichsbahn zu einer modernen und wirtschaftlichen Bahn zusammenzuführen. Wolfgang Scherz arbeitete während dieser Zeit an seiner Seite und bezeichnet ihn als den besten Chef seiner beruflichen Karriere.

Was Scherz neben allen organisatorischen Verdiensten immer wieder heraushebt, ist die Menschlichkeit, mit der Dürr den Reichsbahnern begegnete. Und das insbesondere bei dem wohl schwierigsten Thema, wenn es um die Beurteilung der DDR-Geschichte aus westdeutscher Perspektive geht: der Staatssicherheit und ihrer sogenannten Informellen Mitarbeiter*innen (IM). Scherz berichtet, wie Dürr eine Weisung des Bundesinnenministeriums zum Umgang mit Führungskräften der Reichsbahn, die als IM für die Staatssicherheit tätig gewesen waren, weitläufig auslegte und sich nicht anmaßen wollte, das Verhalten von Menschen in den Zwängen eines politischen Systems zu beurteilen, das er selbst nicht erlebt hatte.

Überhaupt gibt sich Scherz alle Mühe, objektiv zu sein: Er lobt die Fachkenntnisse und die operative Improvisationsgabe der Reichsbahner*innen und betont, dass er in der Zeit, die er beschreibt, viele echte Freunde gefunden habe. Auch inhaltlich bemüht Scherz sich darum, kein schwarz-weißes Bild zu zeichnen: So weist er einerseits auf den schlechten Zustand der Infrastruktur im Netz der Reichsbahn hin, konstatiert dem rollenden Material der Bundesbahn andererseits aber erhebliche Mängel. Last but not least stellt Scherz klar, dass es die Bundesbahn war, die ökonomisch in Schieflage geraten war – ganz im Gegensatz zur Reichsbahn, die nicht nur pünktlich, sondern auch wirtschaftlich fuhr.

Ob der Blick des Autors auf die Reichsbahn aber tatsächlich „vorurteilsfrei“ ausfällt, wie auf dem Klappentext von „Auf Neuen Gleisen“ behauptet wird, ist dennoch zu bezweifeln: Zu sehr ist sein Blick von seinen persönlichen Erlebnissen geprägt, die er dann häufig ins Allgemeine oder sogar Oberflächliche überträgt. Ein Beispiel für diesen Mangel an soziologischer Tiefe sind seine Aussagen zum Stand der Gleichberechtigung in der ehemaligen DDR: Hier nimmt Scherz einen Vorfall, in dem er Zeuge sexueller Belästigung am Arbeitsplatz wurde, für das Ganze und behauptet, die Emanzipation in der DDR sei auch nicht weiter fortgeschritten gewesen als in der BRD. Dass diese Aussage auf einer solchen Basis nicht stichhaltig ist und den wissenschaftlichen Erkenntnissen widerspricht, wischt er – als Zeitzeuge, der ja dabei war – so einfach beiseite.

Unter dem Strich vergisst der Leser bei der Lektüre zu keinem Zeitpunkt, wer dem politischen System angehörte, das als Gewinner aus dem Kalten Krieg hervorgegangen ist. Für Scherz, das ist deutlich, waren es die Bundesbahner*innen mit Dürr an der Spitze, die den Reichsbahner*innen das allzu Verkrustete, Hierarchische, das Duckmäuserische und „Paramilitärische“ abgewöhnt haben. Dass die Reichsbahner*innen das selbst auch und vor allem eine neue gesamtdeutsche Eisenbahn schaffen wollten – ja, dass sie zusammen mit all den anderen DDR-Bürgern die Revolution überhaupt erst gemacht hatten, die all dies ermöglichte – ist dem Autor keine Erwähnung wert.

Ost und West

Es ist inzwischen eine Binsenweisheit, wie sehr sich der Blick der Ostdeutschen und der Westdeutschen auf die deutsche Geschichte seit der Wiedervereinigung unterscheidet. Dass dieser Blick immer noch von der westdeutschen Perspektive allzu stark geprägt ist, hat zuletzt der Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann in seinem Bestseller „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ verdeutlicht. Dass Wolfgang Scherz – der nach eigener Aussage aus Karrieregründen nach Ost-Berlin ging, gut besoldet und mit „Buschzulage“ – als Bundesbahner eine westdeutsche Sicht auf die Dinge hat, ist ihm insofern schwerlich vorzuwerfen.

Womöglich hat der Verlag Das Neue Berlin dem Buch deshalb ein langes Interview mit Wolfgang Scherz vorangestellt, um seine westdeutsche Perspektive zu relativieren – zumal es mit Frank Schumann von einem ausgewiesenen Experten für die Geschichte der DDR geführt worden ist. Leider reden Schumann und Scherz im Interview aber aneinander vorbei: Scherz lässt sich von den systemkritischen Fragen Schumanns nicht aus der Reserve locken („Im Kapitalismus ist das nun mal so“), und Schumann glänzt nicht gerade mit Fachwissen, macht aus Hartmut sogar „Heinz“ Mehdorn.

Fazit

Wolfgang Scherz hat ein Buch zu einem wichtigen Thema der Eisenbahngeschichte und der deutschen Geschichte insgesamt vorgelegt. Allein das ist ein Verdienst, und trotz aller angeführten Schwächen ist das Buch auch durchaus lesenswert. Wer sich über das Thema ausgewogener und weitreichender informieren möchte, sollte aber auch auf andere Publikationen zum Thema zurückgreifen.


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