
Zum Wintersemester 2023/24 wurde an der Technischen Universität München (TUM) eine neue Professur für Planung und Betrieb von Schienenverkehrssystemen geschaffen. Die Professur, die im Department für Mobility Systems Engineering angesiedelt ist, ergänzt im Verkehrsingenieurwesen verkehrstechnische, konstruktive und städtebauliche Schwerpunkte an der TUM und rückt konzeptionelle und betriebliche Aspekte spurgeführter Verkehrssysteme in den Fokus. Im Artikel werden die neue Professur und ihre Forschungsschwerpunkte vorgestellt.
Der Wissenschaftsstandort München mit seinen zwei international renommierten Universitäten ist seit vielen Jahren eine der forschungsstärksten Regionen in Deutschland. Im Verkehrsingenieurwesen ist dabei die Technische Universität München seit vielen Jahren insbesondere in der Verkehrstechnik sowie im Verkehrswegebau ausgewiesen und hat sich unter anderem durch grundlegende Beiträge zur Oberbauforschung im Eisenbahnwesen einen Namen gemacht.
Während andernorts über den Beibehalt von grundlegenden Professuren des Eisenbahnwesens diskutiert wird, beschreitet die TUM mit der Neugründung einen gegensätzlichen Weg. Zum Wintersemester 2023/24 wurde die neue Professur mit der Berufung von Norman Weik offiziell begründet.
Sie ist eingebettet in das Department of Mobility Systems Engineering, welches die Expertise der TUM in der Verkehrssystemforschung bündelt und Fahrzeug- und Antriebstechnik, Verkehrstechnik, Verkehrsplanung und Verkehrsverhalten verbindet. Mit der neu geschaffenen Professur werden nunmehr die existierenden Schwerpunkte gezielt um konzeptionelle und betriebliche Aspekte spurgeführter Verkehrssysteme ergänzt.

Ausrichtung der Professur
Schwerpunkt der Professur ist die Entwicklung von Methoden zur Analyse und Optimierung des Betriebsgeschehens von Schienenverkehrssystemen. Hierbei beschäftigen wir uns – gemäß unserer Designation – sowohl mit konzeptionellen Fragestellungen der Netz- und Verkehrsplanung sowie des Kapazitätsmanagements, als auch mit der optimierten Steuerung und dem Störungsverhalten spurgeführter Systeme.
Die Professur verfolgt dabei einen modernen eisenbahnbetriebswissenschaftlichen Ansatz, der Forschung und Lehre an der Schnittstelle zwischen eisenbahningenieurstechnischer Anwendung und mathematischer Modellbildung verbindet. Angesichts sich rapide verändernder Anforderungsprofile im Bahnsektor bilden wir gezielt Expert*innen aus, die den algorithmischen Stand der Technik nachvollziehen können und über das notwendige Domänenwissen verfügen, an die Erfordernisse des Bahnbetriebs angepasste Modelle zu entwickeln.
Kernbereich unserer Forschung ist die Konzeption und Validierung mathematischer Verfahren zur Systemanalyse. Hierbei liegt ein besonderer Schwerpunkt auf der Kombination von datengetriebenen Ansätzen mit physikalischen Modellen, die auf Wirkzusammenhängen und Domänenwissen im Eisenbahnwesen aufbauen.
Neben einer höheren Präzision und Effektivität stellen wir auf diese Weise sicher, dass auch angesichts des zunehmenden und erforderlichen Einsatzes von Blackbox-Methoden wesentliche Parameter des Systemverhaltens kontrolliert und die Ergebnisse plausibilisiert und erklärt werden können.
Forschungsschwerpunkte
Die Professur für Planung und Betrieb von Schienenverkehrssystemen bildet den spurgeführten Verkehr in seiner Gesamtheit ab. In unseren Lösungen bauen wir auf einen methodischen Dreiklang aus deskriptiver Statistik, Operations Research und Machine Learning sowie physikalisch-modellbasierten Verfahren zur nachvollziehbaren Unterstützung von Planungs- und Managemententscheidungen.
Ein Schwerpunkt ist dabei die Modellierung von Unsicherheiten, um eine akkurate Prognose des Systemverhaltens auch und gerade bei grundlegenden Anpassungen des Systemdesigns und der Betriebsweise zu erhalten, wenn keine oder lediglich unvollständige Informationen zur Verfügung stehen.
Eisenbahnbetriebswissenschaftliche Modellierung
In der Eisenbahnbetriebswissenschaft arbeiten wir an integrierten Ansätzen, die simulative, analytische, und datengetrieben Ansätze verbinden. So erforschen wir aktuell unter anderem, wie die Vergleichbarkeit zwischen unterschiedlichen Modellierungsansätzen und Modellgranularitäten hergestellt werden kann und welchen Einfluss verschiedene Systemparameter auf die Leistungsfähigkeit besitzen.
Eine besondere Herausforderung im Schienenverkehr beruht in der Überlagerung der Effekte von Infrastruktur, Fahrplan und betrieblicher Prozessführung. Die Messung der jeweiligen Einflussfaktoren und ihrer Wirkung ist aber Grundlage und Vorbedingung der Entscheidung, an welchen Stellen Optimierungen vorgenommen werden sollen. So kann eine schlechte betriebliche Robustheit von kritischen Zugabhängigkeiten im Fahrplan, von Restriktionen der zugrundeliegenden Infrastruktur oder aber durch nicht optimale Managementstrategien verursacht werden.
Eine gute Angebotsqualität muss von einer hohen betrieblichen Robustheit begleitet werden, um für Kunden attraktiv zu sein. Aus diesem Grund arbeiten wir an Planungswerkzeugen, die es erlauben, Prognosen in Hinblick auf die zu erwartende Betriebsqualität in den Fahr- und Linienplanungsprozess zu integrieren, und gezielt Schwachstellen der Infrastruktur oder des Fahrplankonzepts für die betriebliche Robustheit zu identifizieren.

Netzwerkphysik des Eisenbahnwesens
Wir sind überzeugt, dass Infrastrukturanpassungen, Linien- und Fahrplankonzepte einer gesamtheitlichen Betrachtung auf Netzwerkebene bedürfen.
Gleichzeitig gestaltet sich die Identifikation von Schwachstellen und wesentlichen systembestimmenden Parametern bei Methoden, die den Fahrplan oder die betriebliche Robustheit global zu optimieren versuchen, schwierig.
Um die Dynamiken und das Verhalten des Eisenbahnnetzes besser zu verstehen, arbeiten wir an einer netzwerkphysikalischen Beschreibung des Eisenbahnsystems. Ziel dieses Forschungsfeld ist es, Systemzustände zu charakterisieren und räumliche und zeitliche Wechselwirkungen zu analysieren und quantifizieren, um objektive Kenngrößen für das Verhalten und die dynamische Entwicklung des Zustands des Eisenbahnsystems abzuleiten.
Eine wichtige Rolle kommt dabei graphentheoretischen Ansätzen zur Analyse von Netzstrukturen zu. Diese können beispielsweise genutzt werden, um kritische Verspätungsübertragungspfade zwischen Zügen innerhalb des Fahrplans zu identifizieren und durch Reallokation von Reserven gezielt zu beheben. Die Abbildung auf S. 9 unten zeigt hierzu beispielhaft in einer dreidimensionalen Darstellung die Zeit-Weg-Linien zweier sich in einem Bahnhof kreuzender Strecken, wobei kritische Punkte für die Verspätungsentwicklung anhand von Clustern im sogenannten Absorptionsgraphen identifiziert wurden.

Technisch-betriebliche Wechselwirkungen
Das Eisenbahnsystem kann nur im Systemverbund umfassend verstanden werden. Im Besonderen gilt dies für das Zusammenspiel von Bahn- und Fahrzeugtechnik sowie Betriebsführung bzw. Systemverhalten. In der Forschungsgruppe arbeiten wir an integrierten Modellen des Bahnsystems, die es erlauben, fahrzeug- und bahntechnische Aspekte gemeinsam mit der Betriebsführung zu untersuchen.
Ein aktuelles Thema ist dabei insbesondere die integrierte Betrachtung von Asset Management und Bahnbetrieb, um die Auswirkungen von Systemausfällen und Wartungs- bzw. Instandhaltungsmaßnahmen netzweit zu quantifizieren und abgestimmte Strategien für die oftmals komplementären Betrachtungsweisen zu entwickeln.
Lehre
Die Professur ist mit Ihrem Lehrangebot aktuell in die Masterstudiengänge im Bau-, Umwelt- und Verkehrsingenieurwesen (Masterstudiengang Transportation Systems) eingebettet. Darüber hinaus werden die Veranstaltungen auch interdisziplinär, u. a. von Studierenden im Bereich der Datenwissenschaften oder des Operations Research belegt. Die Lehre erfolgt dabei vor dem Hintergrund der starken Internationalisierung der TUM überwiegend auf Englisch.
Aktuell beruht unser Lehrangebot auf drei Kernsäulen, welche mit verschiedenen Ergänzungsmodulen im Wahlbereich ergänzt und erweitert werden können. Die Kernmodule sind dabei zum einen eine grundständige Einführung in den Bahnbetrieb, sowie ein fortgeschrittenes Modul zu eisenbahnbetriebswissenschaftlichen Fragestellungen, welches Modellierungsprinzipien moderner Planungs- und Steuerungssysteme auf Basis von mathematischer Optimierung und Machine Learning-Ansätzen zur Fahrplanung und Verspätungsprognose erläutert. Darüber hinaus ist die Professur in die grundlegende Vorlesung zu ÖPNV-Systemen (Öffentlicher Personennahverkehr) eingebunden und für Themen wie Fahrkinematik von Schienenfahrzeugen oder Frequenzsteuerung und Störungsmanagement im ÖPNV verantwortlich.
Neben dem Lehrangebot an der TUM bietet die Professur im Rahmen des Studiengangs Rail and Urban Transport am TUM-Standort Singapur auch dezidierte Lehrangebote für Bahnsysteme im urbanen Kontext an, wobei insbesondere Fragestellungen der optimalen Steuerung des Betriebs sowie der Verknüpfung von Angebot und Nachfrage im Fokus stehen.

Ausblick
Während sich in der Gründungsphase der Professur die Arbeiten und das Lehrangebot verstärkt in den oben genannten Schwerpunkten konzentrieren, sollen mittelfristig insbesondere die Themen Bahntechnik, sowie (spurgeführter) ÖPNV weiter gestärkt und zu eigenen Bereichen innerhalb der Professur entwickelt werden. Erste Schritte hierzu wurden bereits gesetzt – so ist beispielsweise ein Promotionsprojekt zur Optimierung der Wettbewerbssituation im Schienenpersonennahverkehr bereits gestartet.
Wir freuen uns, mit der neuen Professur zur Stärkung des Bahnverkehrs als Rückgrat unseres Transportsystems beizutragen. Bei Interesse an unseren Themenfeldern bzw. einem vertieften Austausch zu aktuellen Herausforderungen im System Bahn freuen wir uns auf Ihre Kontaktaufnahme, um gemeinsam Lösungsansätze zu diskutieren und entwickeln.
Kontakt
TU München
Professur für Planung und Betrieb von Schienenverkehrssystemen
Parkring 35, 85748 Garching
Tel. 089 289 10403
rts@ed.tum.de
www.mos.ed.tum.de/rts
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