Der Bundesverband Schienennahverkehr (BSN) hatte zum 23. Mal zur jährlichen Tagung geladen, und mehr als 400 Teilnehmende waren nach Fulda kommen – ein neuer Rekord, der das gestiegene Interesse an der Branche verdeutlicht. Diese kämpft mit einigen Baustellen, deren aktuell größte der Personalmangel ist, aber auch bei den Investitionen werden die Spielräume enger. Verkehrsunternehmen und Aufgabenträger zeigten sich fest entschlossen, die Herausforderungen zu stemmen, ohne Abstriche bei ihren Zielen zu machen.
Das sich die Zeiten gewandelt haben sei offensichtlich, so begrüßte Thomas Prechtl in seiner Funktion als BSN-Präsident das Publikum zum „Treff SchienenNah“. Das System Schiene stehe im Fokus der Öffentlichkeit wie schon lange nicht, die Finanzierung des Deutschlandtickets, die Qualitätsprobleme der Infrastruktur und der Fachkräftemangel beschäftigen die Branche, die Deutsche Bahn schlägt mit der Gründung der InfraGO ein neues Kapitel in ihrer Geschichte auf, fasste der Gastgeber einige aktuelle Entwicklungen zusammen.
Gleich zwei Vorträge und eine Diskussion zu Beginn der Tagung widmeten sich dem Thema Fachkräfte. Christian Schneemann vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung stellte fest, das gegenwärtig nur in bestimmten Branchen und Regionen von einem generellen Arbeitskräftemangel gesprochen werden könne. Er machte anhand von Bevölkerungsprognosen aber deutlich, dass bis 2040 die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter fast überall in Deutschland deutlich sinken wird, mit Ausnahme einiger weniger Metropolregionen.
Bezogen auf die Verkehrsbranche lassen sich Engpässe auf dem Arbeitsmarkt vor allem in den Bereichen Wartung der Infrastruktur, Fahrzeugtechnik und Automatisierungstechnik erkennen, in der Tendenz auch in der Verkehrsüberwachung und beim Führen von Triebfahrzeugen. Der letzte Punkt war für viele Anwesende überraschend, ist doch der Mangel beim Fahrpersonal für die Verkehrsunternehmen bereits jetzt stark spürbar.
Grenzen der Zuwanderung, Chancen des Imagewandels
Zu den möglichen Lösungsansätzen zählte der Arbeitsmarktforscher die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren, Automatisierung, Zuwanderung, aber auch längere Arbeitszeiten – was angesichts der jüngsten Forderungen der Bahngewerkschaften eher unrealistisch erscheint. Wie der Referent anhand eines Beispiels aus der Energiebranche zeigte, ist dagegen die Verbesserung des Images von Bahnberufen vielversprechend, insbesondere für die Ansprache junger Menschen, für die Nachhaltigkeit ein wichtiges Kriterium bei der Berufswahl ist.
Warum es sinnvoll ist das die Bahnbranche weiblicher wird, untermauerte Schneemann mit einer weiteren Statistik, nach der die durchschnittliche Arbeitszeit von Männern zurückgeht, während Frauen im Schnitt länger arbeiten – ein tendenzielles Problem für Branchen mit hohem Anteil männlicher Beschäftigter.
Die Erwartung, den Fachkräftemangel durch Zuwanderung lösen zu können, wurde im Vortrag etwas gedämpft: Aus Süd- und Osteuropa kommen nicht mehr so viele Menschen nach Deutschland wie noch zur Zeit der Finanz- und Eurokrise, zumal auch in diesen Ländern der demografische Wandel einsetzt. Für diejenigen die kommen, müssten die Anerkennung von Abschlüssen und die Bedingungen für den Familiennachzug erleichtert werden.
Wie das Thema Personalgewinnung auf europäischer Ebene angegangen wird, erläuterte Matthias Rohrmann, Präsident des sogenannten Sozialen Dialogs (SSD) für den Bereich Eisenbahn, einer Plattform für den Dialog zwischen europäischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden.
Rohrmann stellte einige Initiativen vor, welche die Schiene als Arbeitgeber attraktiver machen sollen. Darunter sind das Abkommen Women in Rail, das verbindliche Maßnahmen zur Erhöhung der Frauenquote enthält und in Zukunft sogar eine Richtlinie werden könnte, das Sozialpartnerprojekt EDA Rail zur Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit im Kontext von Digitalisierung und Automatisierung sowie das EU-Projekt STAFFER, das sich mit Qualifizierung, Kompetenzentwicklung und Bildungsaustausch beschäftigt.
Ausbildung und Personalgewinnung müssten mehr europäisch und grenzüberschreitend gedacht werden, forderte Rohrmann, zum Beispiel in Form von übergreifend anerkannten Abschlüssen oder Austauschprogrammen für Nachwuchskräfte – ein Erasmus-Programm für Azubis und Studierende in Bahnberufen ist bereits im Rahmen von STAFFER in Planung. Bei der Rekrutierung solle die Branche über Europas Grenzen hinaus schauen, etwa nach Asien.
Gute Arbeitsbedingungen schaffen, um Mitarbeitende zu halten
Die Teilnehmenden der Podiumsdiskussion griffen die Impulse der Referenten auf. Während die Branche früher viel über Fahrzeuge und Technik sprach, stehen heute Menschen im Mittelpunkt, sagte Ulrike Haber-Schilling, Personalvorständin von DB Regio. Ziel sei nicht, dass sich die EVU untereinander das Personal abwerben, sondern alle Akteure sollten sich gemeinsam gegenüber der Politik für bessere Rahmenbedingungen einsetzen, um als Branche insgesamt attraktiver zu werden.
Trotz einer Rekordzahl an Neueinstellungen fehlt es bei DB Regio nach wie vor an Personal insbesondere im Fahrdienst und in Werkstätten, weshalb es auch darauf ankomme, das bestehende Personal zu halten – Arbeitnehmerbindung ist das neue Recruiting, zitierte Haber-Schilling eine inzwischen gängige Formel.
Joachim Künzel, Geschäftsführer beim Zweckverband Nahverkehr Westfalen-Lippe (NWL), betonte Jobsicherheit als wichtige Recruiting-Botschaft: Wer heute Triebfahrzeugführer lernt, könne den Beruf bis zur Rente ausüben. Außerdem müsse die Branche stärker kommunizieren, dass sie Teil einer Lösung für ein gesellschaftliches Problem ist, nämlich klimafreundliche Mobilität zu organisieren.
Was die Zuwanderung angeht, sei es mit der Anwerbung nicht getan, so Künzel, sondern es brauche Integrationsmaßnahmen, um die Zugewanderten halten zu können. Dazu gehöre auch, das gesamtgesellschaftliche Problem des bezahlbaren Wohnraums in großen Städten und Ballungsräumen zu lösen.
Die Sicht einer Wettbewerbsbahn brachte Netinera-Geschäftsführer Alexander Sterr in die Diskussion ein. Der Konzern konzentriere sich vor allem darauf, die eigenen Beschäftigten zu halten, da die Suche nach neuem Personal auf ein schwieriges Arbeitsmarktumfeld trifft. So gibt es seit Jahren Vollbeschäftigung, gleichzeitig wird der Schichtdienst immer unbeliebter, ohne den es aber in Bahnberufen nicht geht.
Sterr richtete die erwartungsgemäße Forderung an die Aufgabenträger, die gestiegenen Kosten für höhere Lohnabschlüsse und für die Umsetzung attraktiverer Arbeitsbedingungen müssten in den Indizes der Verkehrsverträge abgebildet werden.
Länderhaushalte unter Druck: Droht eine Sparrunde beim SPNV?
Das gleich nach dem Personal drängendste Branchenthema ist die Finanzierung. Astrid Klug, Abteilungsleiterin im saarländischen Verkehrsministerium, verdeutlichte die Situation mit einem Blick auf die Entwicklung der SPNV-Etats der Bundesländer. Die Verlängerung des Corona-Rettungsschirms und die Erhöhung der Regionalisierungsmittel durch die 2022 angetretene Ampelregierung wirkten sich zunächst positiv aus.
Dann kamen der Ukrainekrieg, die Energiekrise und schließlich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klima- und Transformationsfonds. Zur Entlastung der Verbraucher rief die Politik das 9 Euro- und schließlich das Deutschland-Ticket ins Leben, was die Sache für die Fahrgäste einfacher, für Aufgabenträger und Verkehrsunternehmen aber komplexer gemacht habe.
Den von Klug präsentierten Prognosen nach können die höheren Regionalisierungsmittel die Kostensteigerungen nicht kompensieren: So wachsen bereits seit dem vergangenen Jahr die jährlichen Ausgaben der Länder für den SPNV stärker als die zur Verfügung stehenden Mittel, diese Schere geht bis 2031 weiter auseinander.
Spätestens ab 2025 werden demnach erste Bundesländer bei den Rücklagen ihrer Regionalisierungsmittel ins Minus geraten und Bestandsverkehre nicht mehr finanzieren können. Der Anteil der Landesmittel für den SPNV werde sich gegenüber 2017 mehr als verdoppeln. Bei neuen Ausschreibungen und Verkehrsverträgen würden in der Folge Angebote reduziert bzw. Verkehre abbestellt werden, so die Ministerialbeamtin. Wenn das Verkehrsangebot nicht nur erhalten, sondern verbessert und ausgebaut werden soll, kommen weitere Kostenfaktoren hinzu, darunter Taktverdichtung, die Umrüstung der Fahrzeuge auf alternative Antriebe, Digitalisierung, Reaktivierung von Bahnstrecken sowie Barrierefreiheit, Sicherheit und Sauberkeit in den Zügen und an den Haltestellen.
Hoffnung setzt Klug in das Deutschlandticket: Das neue Vertriebsmodell könne der Katalysator sein, um mehr Fahrgäste für die Schiene zu gewinnen und damit gute Argumente gegenüber der Politik liefern, den SPNV trotz schwieriger Haushaltslage langfris-tig finanziell zu unterstützen. Neukunden könnten aber nur durch ein hochwertiges Angebot überzeugt werden, da sie höhere Erwartungen als diejenigen haben, die öffentliche Verkehrsmittel bereits regelmäßig nutzen.
Mehr Transparenz, bessere Governance, atmende Systeme bei der Finanzierung statt starrer Regeln sowie einen Ausbau- und Modernisierungspakt zwischen Branche und Politik – für diese Forderungen erhielt Klug viel Zuspruch und Szenenapplaus aus dem Publikum.
Auf Kurs bleiben, auch wenn es brennt
In den Vorträgen und Diskussionsbeiträgen wurde deutlich, dass die Branche sehr viel unternimmt, um den Schienennahverkehr leistungsfähiger und besser zu machen, die Bemühungen aber noch nicht ausreichen. Die langfristigen Ziele – mehr Verkehr und Qualität auf der Schiene – in Frage zu stellen, ist für die in Fulda versammelten Unternehmens- und Verbandsvertreter*innen aber keine Option, auch wenn „es gerade brennt und wir kämpfen müssen“, wie NWL-Chef Künzel es ausdrückte.
Der nächste Treff.SchienenNah findet am 12. und 13. Februar 2025 in Fulda statt.
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