Auf der 1. Fachkräftekonferenz des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) im Frühjahr in Berlin wurde einmal mehr deutlich, dass der Mangel an Arbeitskräften die Branche in den kommenden Jahren intensiv beschäftigen wird. Die VDV-Mitgliedsunternehmen erhoffen sich durch die Veranstaltung eine Initialzündung, um mehr neue Mitarbeitende gewinnen und vorhandene noch stärker an die Branche binden zu können.
80.000 Mitarbeitende wird die Verkehrsbranche bis zum Jahr 2030 altersbedingt verlieren, und bereits im vergangenen Jahr hat laut der aktuellen VDV-Branchenumfrage „Personal 2023“ jedes zweite Unternehmen den Fahrbetrieb wegen personeller Engpässe zumindest zeitweilig einschränken müssen. Grund genug für Harald Kraus, endlich die erste VDV-Fachkräftekonferenz zu veranstalten und gemeinsam mit den Verantwortlichen in den Mitgliedsunternehmen für Personal, Recruiting und Bildung nach Lösungen für dieses gewichtige Problem zu suchen: Denn von dem Riesen-Eisberg, auf den die Branche zusteuere, sehe man derzeit lediglich die Spitze, sagte der Vizepräsident der VDV-Akademie und Vorsitzende des VDV-Bildungsausschusses auf der Eröffnung der Konferenz.
Kraus, Arbeitsdirektor bei den Dortmunder Stadtwerken (DSW21), unterstrich die elementare Bedeutung des Faktors Personal für eine nachhaltige Verkehrswende und führte dazu die Punkte sinnstiftende Tätigkeit, gute Altersversorgung und lokales Arbeitsangebot als Argumente für eine berufliche Tätigkeit in der Verkehrsbranche an. Dennoch werde es mit den herkömmlichen Mitteln und Methoden nicht gelingen, die entstandenen und entstehenden personellen Lücken zu stopfen, sagte Kraus weiter: Die Branche habe ein strukturelles Problem und stehe vor einem Schwenk von der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit zu einem Wachstumskurs im Sinne einer nachhaltigen Verkehrswende.
Lösungsansätze in der Diskussion
Welche Ansätze angesichts dieser Herausforderungen bereits vorhanden sind und was getan werden muss, um diese zu bewältigen, darüber diskutierten die Konferenzteilnehmer an zwei Tagen unter der Moderation von Journalist Sascha Hingst und anhand eines fachlich hervorragenden Programms, das – zusammengestellt von den Mitarbeitenden der VDV-Akademie – aus Fachvorträgen, Podiumsdiskussionen und parallel laufenden Workshop-Sessions zur thematischen Vertiefung bestand.
Die geladenen Arbeitsmarktexpert*innen unterstützten die einleitenden Worte, skizzierten besondere Problemfelder und unterbreiteten den Konferenzteilnehmenden auch erste Lösungsansätze: So wies Lisa Gadomski von der Arbeitgeberinitiative Deutschland mobil 2030 auf den eklatanten Mangel an Fahrpersonal hin, der – und das sei das Besorgniserregende – stetig steige. Fahrendes Personal sei ganz überwiegend männlichen Geschlechts; der vergleichsweise geringe Frauenanteil in der Verkehrsbranche von 21,5 Prozent sei darauf zurückzuführen, und dementsprechend sei hier durchaus Potenzial zur Gewinnung von Nachwuchskräften vorhanden, sagte Gadomski.
Paul Hemkentokraz, Geschäftsführer der Aktiv Bus Flensburg GmbH, warnte davor, das eigene Personal „sauer zu fahren“ angesichts dauerhaft hoher Krankenstände um die 20 Prozent: „Wir müssen auch den Stöpsel reinkriegen, um den Personalabfluss zu stoppen. Sonst nutzt uns das beste Recruiting nichts“, sagte Hemkentokraz.
Professor Dr. Ulrich Walwei warnte, es sei bereits jetzt zu sehen, wie der Personalmangel in der Branche sich negativ auf deren Wirtschaftlichkeit auswirke. Es gebe offene Stellen auf Rekordniveau, und unter dem Strich gingen pro Jahr 400.000 Personen mehr aus dem Arbeitsmarkt heraus als herein. Neben der allgemeinen Erhöhung der Erwerbsbeteiligung sei eine verstärkte Zuwanderung der aussichtsreiche Hebel, um diese Lücke zu schließen, sagte der Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).
Politik hält nicht Schritt
Hoffnung hat in diesem Zusammenhang die Überarbeitung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes geweckt, mit dem die amtierende Bundesregierung unter anderem die Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufsqualifikationen erleichtern und darüber hinaus auch die berufliche Tätigkeit von aus dem Ausland kommenden Fachkräften ohne in Deutschland anerkannten Berufsabschluss ermöglichen soll. Kraus sprach in diesem Zusammenhang die so genannte Chancenkarte an, mit der Menschen unter bestimmten Bedingungen für ein Jahr nach Deutschland kommen dürfen sollen, um sich auf dem Arbeitsmarkt zu bewähren.
Diese Chancenkarte brauche die Verkehrsbranche ebenso wie eine generelle Entbürokratisierung, forderte Kraus ebenso wie Anja Wenmakers von den Bonner Stadtwerken. „Wir sind hands on, schulen das Personal auch und leisten so einen Beitrag zur Integration, aber die Politik muss uns dafür auch den Rahmen vorgeben“, sagte Wenmakers. Markus Müller vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) dämpfte derlei Erwartungen aber deutlich und sprach von einem dicken Brett, das zunächst über mehrere Jahre zu bohren sei, bevor das Gesetz in der Praxis zu wirken beginne: Momentan würden gerade erst die rechtlichen Möglichkeiten eruiert, es liege lediglich ein Gesetzesentwurf vor, sagte Müller.
Insgesamt zeigte sich auf der Fachkräftekonferenz, dass sich die langwierigen Entscheidungsprozesse, die in einer Demokratie mit zeitaufwendigen Kompromissfindungen einhergehen, mit dem Tempo der Veränderungen auf den Arbeitsmärkten und in den Unternehmen im Zeitalter der Digitalisierung nicht mehr Schritt zu halten vermögen – ein Problem, für das es zumindest kurzfristig keine Lösung zu geben scheint.
Automatisierung ist notwendig
Ein weiteres Beispiel dafür im Verkehrssektor ist das Thema Automatisierung: Diese werde kommen, und die Fahrpersonale in den Verkehrsunternehmen bräuchten auch keine Angst davor zu haben, da es genügend andere Entwicklungspotenziale in den Unternehmen gebe und niemand für immer Fahrer*in bleiben müsse, sagte Wenmakers. Doch auch an dieser Stelle trat Müller auf die Bremse, zeigte sich skeptisch und zweifelte offen und ehrlich daran, dass es bei diesem Thema in näherer Zukunft ein tragfähiger politischer Beschluss zustande kommen könnte, der die Unternehmen der Verkehrsbranche einen Hebel in die Hand geben könnte, um ihren Personalmangel zu reduzieren.
Auf einer Podiumsdiskussion zum Thema Arbeitswelt 4.0 bekräftigte Berthold Radermacher gleichwohl noch einmal, dass die Verkehrsunternehmen an einer weitergehenden Automatisierung nicht werden herumkommen können: „100 Prozent mehr Leistung bis zum Jahr 2030 bei 50 Prozent weniger Mitarbeitenden bedeutet Automatisierung“, sagte der VDV-Fachbereichsleiter Telematik, Informations- und Kommunikationstechnik. Was fehle, sei aber eine übergeordnete Koordination dieser Aufgabe, eine Digitalstrategie.
Dr. Oliver Stettes unterstützte letztere These und ergänzte, dass die aufgrund der Digitalisierung anstehenden „Großtransformation mit alternder Belegschaft“ die Kernherausforderung der Verkehrsbranche sei. Auf die Frage von Michael Weber-Wernz, Geschäftsführer der VDV-Akademie, ob die Berufsprofile in Zukunft eher eine Auf- oder doch eine Abwertung erfahren würden, antwortete Stettes, dass eine Abwertung nicht zu erwarten sei, ganz im Gegenteil: „Technologie zerstört keine Arbeit; die Leute werden gebraucht, nur anders.“
Faktor Zeit
Ebenso wie Stettes hob derweil Dr. Roman Jaich von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi hervor, dass es angesichts der weitergehenden Akademisierung der Arbeitswelt dringend einer Aufwertung der nicht-akademischen Berufsfelder bedürfe, da es gerade in diesen Bereichen – zum Beispiel eben beim Fahrpersonal – besonders großen Nachwuchsbedarf gebe.
Doch auch an dieser Stelle wurden entstehende Erwartungen sogleich gedämpft: Auf die Frage von Michael Weber-Wernz nach einer möglichen Beschleunigung der langwierigen Neuordnung von Berufen verwies Jaich auf die Dauer der erforderlichen Entscheidungsprozesse, da Kompromisse ausgehandelt werden müssten: „Wenn wir Berufe haben wollen, hinter denen wir alle stehen, dann braucht es diese Zeit“, sagte Jaich.
Fazit
Unter dem Strich zeigte sich auf der 1. VDV-Fachkräftekonferenz also, wie wichtig das Thema Personal für die Zukunft der Verkehrsunternehmen und der gesamten Branche ist – und wieviel noch zu tun bleibt. Die VDV-Akademie trägt diesem Umstand im laufenden Jahr unter anderem mit zwei weiteren Veranstaltungen Rechnung: So findet am 13. und 14. Juni die VDV-Bildungskonferenz in Frankfurt am Main statt. Und vom 13. bis zum 15. September wird der VDV-Personalkongress in Köln veranstaltet.
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