Mit dem im deutschen Bahnbetrieb traditionell verwendeten Ersatzsignal, das den Befehl zur Vorbeifahrt am Halt zeigenden oder gestörten Hauptsignal ersetzt, wird dem Fahrdienstleiter ein Mittel in die Hand gegeben, im Störungsfall eine Zugfahrt unter Umgehung sämtlicher technischer Sicherungsfunktionen zuzulassen. Da die Kriterien der Fahrweg- und Zugfolgesicherung in Personalverantwortung durch den Fahrdienstleiter festzustellen sind, können kleine Fehler bei der korrekten Beurteilung der Betriebssituation fatale Folgen haben.
Der Beitrag hinterfragt kritisch die Rolle des Ersatzsignals und beschreibt nach dem Vorbild der Schweiz eine zeitgemäße Lösung für die Gestaltung sicherer Rückfallebenen unter den Bedingungen einer zunehmend durch Zentralisierung, Automatisierung und Digitalisierung geprägten Betriebssteuerung.
Der Titel dieses Beitrages ist als rhetorische Frage formuliert, die gleich am Beginn beantwortet werden soll. Ja, im internationalen Kontext gesehen ist ein den deutschen Regeln entsprechendes Ersatzsignal, das heißt, ein unter Umgehung sämtlicher technischer Sicherungsfunktionen anschaltbares Signal, das die Vorbeifahrt am Halt zeigenden oder gestörten Hauptsignal zulässt, ohne anschließend auf Sicht fahren zu müssen, tatsächlich ein Sonderweg. Gleiches gilt für die Bedeutung des schriftlichen Befehls, den das Ersatzsignal ersetzt. Eine der wenigen bekannten Anwendungen im Ausland findet sich unter gleicher Bezeichnung in Österreich, was aufgrund der historischen Entwicklung auch nicht verwundert. Dieser Beitrag untersucht die Frage, wieso sich im deutschen Bahnbetrieb diese vom internationalen Standard abweichende Lösung bis heute behauptet und ob es zeitgemäße Alternativen gibt. Der Inhalt basiert auf dem Auszug eines Vortrages, der vom Autor am 20. Oktober 2017 auf dem Eisenbahnbetriebsleiter-Symposium des VDEF in Speyer gehalten wurde.[1]
Das Ersatzsignal im internationalen Kontext
Zusatzsignale, mit denen der Fahrdienstleiter die Vorbeifahrt am Halt zeigenden oder gestörten Hauptsignal zulassen kann, sind zunächst nichts Ungewöhnliches. Solche Signale gibt es bei fast allen Bahnen der Welt. Abbildung 1 zeigt ein paar Beispiele für dabei im Ausland verwendete Signalbilder. Allerdings ist allen diesen Signalen gemeinsam, dass im folgenden Gleisabschnitt auf Sicht zu fahren ist. Die Signalbedeutung entspricht damit etwa dem deutschen Vorsichtsignal. Auch ist dieses Signal bei einigen Bahnen, zum Beispiel in den Niederlanden oder bei nordamerikanischen Bahnen, nur bei verschlossener Fahrstraße bedienbar. Da damit die Fahrwegsicherung nicht umgangen werden kann und die fehlende Freiprüfung des Fahrwegs durch das Fahren auf Sicht kompensiert wird, ist dieses Signal bei diesen Bahnen sogar ohne zählpflichtige Bedienung anschaltbar. Die meisten Bahnen sehen für die Zulassung einer Zugfahrt mit besonderem Auftrag jedoch eine Protokollpflicht vor, was bei der Bedienung dieser Signale dann ähnlich wie in Deutschland durch Zählpflicht oder Lösen von Siegeln realisiert wird.
Bemerkenswert ist das bei den Bahnen der OSShD verwendete weiße Blinklicht. Zur OSShD (ältere deutsche Transkription der russischen Abkürzung ОСЖД) gehören die Bahnen der osteuropäischen Länder, der ehemaligen Sowjetunion, der Mongolei, Chinas, Vietnams und Nordkoreas. Dieses Signalbild ist damit in einem sehr großen Teil der Welt verbreitet. Die Deutsche Reichsbahn der DDR hatte es als OSShD-Mitglied ebenfalls übernommen, allerdings in der abweichenden Bedeutung als Ersatzsignal. Dazu ist jedoch anzumerken, dass bei der Deutschen Reichsbahn auf Strecken mit selbsttätigem Streckenblock wegen der Anwendung des permissiven Fahrens Ausfahrsignale und Blocksignale an Abzweigstellen mit dem roten Mastschild ausgerüstet waren, an dem auch das Ersatzsignal das Fahren auf Sicht erforderte. An diesen Signalen hatte das Ersatzsignal damit die Funktion des heutigen Vorsichtsignals. Nach der Wiedervereinigung setzte sich das weiße Blinklicht auf Strecken mit Ks-Signalen dann auch im Bereich der ehemaligen Deutschen Bundesbahn durch. Auch das österreichische Ersatzsignal verwendet dieses Signalbild. Andererseits haben einige ausländische Bahnen, die sich historisch stark am deutschen Vorbild orientierten, zum Beispiel die Bahnen in Thailand und der Türkei, aus Deutschland das traditionelle Signalbild des Ersatzsignals mit drei weißen Lichtern in Form eines „A“ übernommen, sie verwenden dieses Signalbild jedoch im Sinne eines Vorsichtsignals, das heißt, als Auftrag zum Fahren auf Sicht.
Dass das deutsche Ersatzsignal in weiten Teilen der Welt keine Entsprechung hat, ist für deutsche Betriebsfachleute oft erstaunlich, ähnlich verwundert zeigen sich jedoch ausländische Fachleute, wenn sie vom deutschen Ersatzsignal erfahren. Verwundert ist man im Ausland vor allem über die Tatsache, dass die deutsche Sicherungstechnik einerseits über sehr ausgefeilte und wohlbegründete Sicherungsfunktionen verfügt, dann aber dem Fahrdienstleiter mit dem Ersatzsignal ein erstaunlich einfaches Mittel in die Hand gegeben wird, mit einer zählpflichtigen Bedienung sämtliche technischen Sicherungsfunktionen in Personalverantwortung zu umgehen.
Das folgende Zitat stammt aus einem Beitrag, der in der britischen Zeitschrift IRSE News, dem Organ der Institution of Railway Signal Engineers (IRSE) erschien und in dem sich der Autor mit mehreren Unfällen auseinander setzt, bei denen eine der beteiligten Zugfahrten durch Ersatzsignal zugelassen wurde:
„Es ist fraglich, ob es sicher ist, einen Zug auf Zs 1 abfahren und mit 100 km/h weiterfahren zu lassen, wenn das Zs 1 wegen einer Signalstörung gezeigt wurde. Obwohl laut Regelwerk das Freisein des Abschnitts durch den Fahrdienstleiter festzustellen ist, beweisen mindestens drei Unfälle, dass es eine Unsicherheit hinsichtlich der korrekten Durchführung dieser Feststellungen gibt.“[2]
Dass international für die Funktion des Ersatzsignals kein Bedarf gesehen wird, sieht man auch daran, dass im European Train Control System (ETCS) mit anzeigegeführtem Betrieb ein dem Ersatzsignal entsprechender Auftrag nicht existiert. Während ein solcher Auftrag bei der Linienzugbeeinflussung (LZB) in Form des LZB-Ersatzauftrages vorhanden ist, gibt es im ETCS im anzeigegeführten Betrieb nur die Betriebsart OS (on sight), die eine Analogie zum Vorsichtsignal beziehungsweise dem LZB-Vorsichtauftrag darstellt.
Historische Begründung des Ersatzsignals
Das Ersatzsignal geht auf einen Betriebsversuch in der zweiten Hälfte der 1920-er Jahre auf Strecken der Berliner S-Bahn mit einem damals noch als Ad-Signal bezeichneten Signal zurück.[3] Abbildung 2 zeigt eine frühe Anwendung auf der Vorortstrecke nach Potsdam, auf der im Unterschied zur Stadtbahn zu dieser Zeit noch keine Sv-Signale zum Einsatz kamen. Die Bezeichnung Ad-Signal rührte daher, dass dieses Signal den zur Vorbeifahrt an einem Halt zeigenden Signal erforderlichen schriftlichen Befehl A, Abschnitt d, ersetzte. Mit der Neuherausgabe der Fahrdienstvorschriften im Jahre 1933 wurde die Struktur der Befehlsvordrucke geändert. Die Funktion des Befehls Ad ging auf den Befehl Ab über, der unter dieser Bezeichnung noch die Jahrtausendwende überlebte und erst im Jahre 2003 durch den heutigen Befehl 2 abgelöst wurde.
Anlass der Einführung des Ad-Signals war, dass unter den Bedingungen der durch die mit selbsttätigem Streckenblock ermöglichten dichten Zugfolgen auf S-Bahn-Strecken die zeitraubende Übermittlung schriftlicher Befehle problematisch wurde. Dies betraf allerdings nur die Einfahrsignale. An Ausfahrsignalen wurden Befehle durch die Bahnsteigaufsichten übermittelt, wobei durch die verbreitete Anwendung der M-Tafel auf die schriftliche Ausfertigung weitgehend verzichtet werden konnte. An Einfahrsignalen waren Signalfernsprecher noch nicht überall vorhanden, es wurde auch kritisch gesehen, dass das Zugpersonal zur Entgegennahme eines Befehls den Zug verlassen musste. Das Ad-Signal sollte die Aufsicht davon entlasten, sich zur Befehlsübermittlung zum Einfahrsignal begeben zu müssen. Konsequenterweise wurden daher die Ad-Signale anfangs im Auftrag des Fahrdienstleiters durch die Aufsicht bedient, die dabei das Bahnsteiggleis durch Hinsehen auf Freisein prüfte.
Im Jahre 1931 ließ die Hauptverwaltung der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft (DRG) die versuchsweise Anwendung des inzwischen als Ersatzsignal bezeichneten Signals in größerem Umfang zu (Verfügung DRG, Hv, 80 Sss 85 vom 19. August 1931).[4] Die Anwendung blieb jedoch umstritten. Kritisch gesehen wurde insbesondere die Anwendung an Ausfahr -und Blocksignalen, das heißt, zur Zulassung von Zugfahrten in einen Zugfolgeabschnitt. So heißt es in einem Aufsatz von 1933[5]: „Das Ersatzsignal soll nur dort angewendet werden, wo ein dringendes Bedürfnis dafür vorliegt. Seine Verwendung für Ausfahrsignale kommt zunächst nicht in Frage.“
Eine versuchsweise Anwendung an Blocksignalen wurde im Jahre 1934 wieder untersagt und nur noch in Ausnahmefällen gestattet (Verfügung DRG, Hv, 80 Sss 263 vom 3. Dezember 1934). Mit der Neuherausgabe des Signalbuchs im Jahre 1935 wurde das Ersatzsignal offiziell ins Regelwerk aufgenommen, 1936 folgte die Herausgabe neuer Grundschaltungen. Die Verfügung von 1934 blieb in Kraft, so dass sich die Anwendung weitgehend auf Einfahrsignale beschränkte. Auch konnte die Anschaltung noch unter Einbeziehung eines Fahrstraßenhebelkontaktes vorgenommen werden, so dass das Ersatzsignal nur bei gesichertem Fahrweg anschaltbar war.
Das völlig frei ohne Abhängigkeiten zur Fahrwegsicherung anschaltbare Ersatzsignal wurde erst während des Krieges durch eine Verfügung des Reichsverkehrsministeriums, auf das 1937 nach Auflösung der DRG und Übernahme der Deutschen Reichsbahn in die unmittelbare Reichsverwaltung die Funktion der Hauptverwaltung übergegangen war, zur Regellösung (Verfügung RVM 60. 606 Sss 554 vom 8. Juli 1943). Darin heißt es: „Von der Eingliederung eines Fahrstraßenhebelkontaktes in den Stromlauf zur Anschaltung des Ersatzsignals ist grundsätzlich abzusehen.“
Die Beschränkung der Anwendung des Ersatzsignals auf Einfahrsignale blieb allerdings weiter bestehen. Dies änderte sich erst 1948 durch eine Verfügung der Hauptverwaltung der Eisenbahnen (HVE) im britischen und amerikanischen Besatzungsgebiet (Verfügung HVE – 40.402 Sss 50 – vom 13. Oktober 1948). Darin heißt es: „Abgesehen von einigen Ausnahmefällen sind Ersatzsignale bisher nur an Einfahrsignalen verwendet worden. Da jedoch im Interesse einer Beschleunigung der Betriebsführung in gewissen Fällen das Bedürfnis für eine weitgehendere Verwendung dieses Signals besteht, werden hiermit Ersatzsignale auch an allen übrigen Hauptsignalen mit Ausnahme an Deckungssignalen vor beweglichen Brücken zugelassen.“
Diese Verfügung wurde 1949 von der Deutschen Bundesbahn übernommen und ist bis heute Bestandteil der Sammlung Signaltechnischer Verfügungen (Richtlinie 818 SSV), die für bestehende Anlagen im Bereich der ehemaligen Deutschen Bundesbahn noch immer geltendes Regelwerk der Deutschen Bahn AG ist.[6] Die Intention war die Beschleunigung der Betriebsführung, um die wachsende Verkehrsnachfrage unter den Bedingungen des Wiederaufbaus der Infrastruktur nach dem Kriege besser bewältigen zu können.
Für die Deutsche Reichsbahn der DDR galten seit 1959 die „Grundsätze für die Ausgestaltung der Sicherungsanlagen auf Hauptbahnen und den mit mehr als 60 km/h befahrenen Nebenbahnen“, die für bestehende Anlagen im Bereich der ehemaligen Deutschen Reichsbahn ebenfalls noch immer geltendes Regelwerk der Deutschen Bahn AG sind.[7] Danach blieb die Anwendung des Ersatzsignals auf Einfahrsignale und Ausfahrsignale an Gleisen beschränkt, auf denen Durchfahrten zugelassen sind. Dahinter stand offenbar auch die Intention einer Verbesserung der Betriebsflüssigkeit, indem für durchfahrende Züge Halte zur Befehlsübermittlung vermieden werden sollten. In Gleisbildstellwerken waren Durchfahrten üblicherweise auf allen Hauptgleisen zugelassen, so dass sich das Ersatzsignal in moderneren Anlagen an allen Hauptsignalen durchsetzte.
Die heute für Neuanlagen geltende Richtlinie 819 legt fest, dass Ersatzsignale nach den Vorgaben der betrieblichen Infrastrukturplanung vorzusehen sind.[8] In der Praxis ist bei der Planung von elektronischen Stellwerken (ESTW) keine einheitliche Linie zu erkennen. Während in einigen Regionen das Ersatzsignal in Neuanlagen nahezu ausstirbt und an allen Signalen das Vorsichtsignal angewendet wird, wird es in anderen Regionen noch in großer Zahl neu eingebaut.
Vergleich mit den Regeln der Schweizer Bahnen
In betrieblichen Fragen wird als Vorbild oft auf die Schweiz verwiesen, und das bietet sich auch bei diesem Thema an. In Abbildung 1 sind auch die beiden Varianten des Schweizer Hilfssignals aufgeführt, die ältere Version mit dem gelb leuchtenden schrägen Lichtstreifen und die neuere Version mit rotem Blinklicht. Beide sind in der Bedeutung gleichwertig und entsprechen dem deutschen Vorsichtsignal.
In Diskussionen mit deutschen Eisenbahnfachleuten wird auf die Frage, weshalb der Schweizer Bahnbetrieb ohne ein Ersatzsignal auskommt, oft das Argument angeführt, dass in der Schweiz ein Ersatzsignal entbehrlich sei, da in der Schweizer Stellwerkstechnik die Störfallbehandlung viel stärker auf Hilfsumgehungen basiert. Hilfsumgehungen haben sich im deutschen Bahnbetrieb erst in ESTW mit Fahrstraßenprüfung und -überwachung (FPÜ) durchgesetzt, allerdings nur in der Weise, dass die Fahrstraße mittels Hilfsumgehung in den vollüberwachten Status (FÜM Ruhelicht) gelangt, die Zugfahrt aber durch besonderen Auftrag zugelassen werden muss. In der Schweiz kommt in diesen Fällen das Hauptsignal tatsächlich auf Fahrt.
Hierzu ist aber auf einen entscheidenden Sachverhalt hinzuweisen, der aus deutscher Sicht oft übersehen wird. In der Schweiz muss nach Eintritt einer Störung der erste Zug über den gestörten Abschnitt immer beauftragt werden, auf Sicht zu fahren.
Die Schweizerischen Fahrdienstvorschriften (FDV) legen dazu fest[9]:
„Die erste Fahrt hat den gestörten Abschnitt mit Fahrt auf Sicht zu befahren. Dabei ist die dem Regelbetrieb entsprechende Fahrstrasse mit Fahrt auf Sicht zu befahren. Ab der zweiten Fahrt kann der gestörte Abschnitt mit der vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit befahren werden, sofern die entsprechenden Bedingungen für die Aufhebung der Fahrt auf Sicht erfüllt sind. Können diese nicht erfüllt werden, hat die Fahrt mit Fahrt auf Sicht zu erfolgen.“
Das gilt für die erste Fahrt auch dann, wenn das Hauptsignal auf Fahrt gestellt werden kann. In diesem Fall ist vor der Signalbedienung das Fahren auf Sicht durch einen schriftlichen Befehl anzuordnen. Wenn kein Signal auf Fahrt gestellt werden kann, erfordert das Hilfssignal ohnehin das Fahren auf Sicht.
Auch hierzu ein Zitat aus den FDV:
„Wird das Hauptsignal mit einer Notbedienung auf Fahrt gestellt, hat der Fahrdienstleiter der ersten und sofern erforderlich weiteren Fahrten die Fahrt auf Sicht protokollpflichtig vor dem auf Fahrt stellen des Hauptsignals mit dem Befehl Verminderung der Geschwindigkeit vorzuschreiben.“
Unter einer Notbedienung werden alle zählpflichtigen Hilfshandlungen verstanden. Darunter fallen sowohl Hilfsumgehungen als auch Grundstellungsbedienungen (zum Beispiel Achszählgrundstellung). Auch wenn dem Fahrdienstleiter anhand der Bedienanzeigen und gegebenenfalls zusätzlicher Meldungen oder örtlicher Feststellungen alle Informationen zum Frei sein des zu befahrenden Gleisabschnitts vorliegen, dürfen diese Informationen für die erste Fahrt nicht ausgewertet werden. Erst ab der zweiten Fahrt darf, sofern alle Feststellungen getroffen werden können, vom Fahren auf Sicht abgesehen werden.
Diese Regel ist außerordentlich wichtig. Die Erfahrung vieler Unfälle in Deutschland in Zusammenhang mit sicherungstechnischen Störungen zeigt, dass die entscheidenden Fehler fast immer beim Übergang vom Regelbetrieb in die Rückfallebene passieren. Beim Eintretender Störung wird der Fahrdienstleiter mit einem unerwarteten Ereignis konfrontiert und muss unter Zeitdruck und Stress eine sicherheitsrelevante Entscheidung treffen. Fehler beim Abklären der Betriebslage, zum Beispiel Verwechseln von Zugnummern oder fehlerhafte Identifizierung der Störung (mit geistigem„Abgleiten“ in den falschen Störfallprozess) können unmittelbar zu Unfällen führen. Gerade das Abklären der Betriebslage ist bei zentralisierter Betriebssteuerung oft nicht einfach. Die Zugnummernmeldeanlage darf zwar formal nicht ausgewertet werden, durch Fehler der Zugnummernmeldung (zum Beispiel Hängenbleiben, Verschwinden und Überschreiben von Zugnummern) kann der Fahrdienstleiter aber zu einem falschen geistigen Abbild der Betriebslage gelangen. Dies kann beim Störungseintritt auch ohne bewusste Auswertung der Zugnummernmeldeanlage zu einer Fehleinschätzung der Betriebslage führen.
Wenn der erste Zug den gestörten Abschnitt befahren hat und die Rückfallebene korrektetabliert wurde, fallen diese Fehlerquellen weg. Es sind zwar anschließend die für die Rückfallebene festgelegten Handlungen in Personalverantwortung durchzuführen, es sind aber keine komplexen und fehleranfälligen Entscheidungen mehr zu treffen. Die in den Schweizer Fahrdienstvorschriften getroffene Regelung ist damit aus Sicht der Betriebssicherheit außerordentlich wirkungsvoll. Auf die Betriebsqualität sind in der Schweiz keine negativen Auswirkungen bekannt, ganz im Gegenteil, die Schweizer Bahnen gelten in Europa als das große Vorbild in Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit.
Fazit und Empfehlungen
Die Tatsache, dass es bei deutschen Eisenbahnen ein Ersatzsignal gibt, das kein Fahren auf Sicht erfordert und mit dem sich in Personalverantwortung des Fahrdienstleiters sämtliche Sicherungsfunktionen auf sehr einfache Weise umgehen lassen, ist im internationalen Vergleich ein Sonderweg. Dass die deutschen Bahnen in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts diese Lösung entwickelten, ist mit Blick auf die damalige Technik historisch erklärbar. Unter den heutigen Betriebsbedingungen ist diese Lösung nicht mehr zeitgemäß und birgt bei Fehlhandlungen vermeidbare Risiken.
Als Vorbild für eine zeitgemäße Sicherheitsstrategie zur Störfallbehandlung können die in den Schweizerischen Fahrdienstvorschriften festgelegten Regeln dienen, die sich nicht nur unter Sicherheitsaspekten bewährt haben, sondern auch der Anforderung genügen, ein Netz mit hoher Betriebsdichte und dem Anspruch einer hervorragenden Betriebsqualität zu betreiben.
Für eine entsprechende Weiterentwicklung des deutschen Regelwerks sind dafür zwei Lösungen denkbar:
- Ausstieg aus der Nutzung des Ersatzsignals
- Beibehaltung des Ersatzsignals in bestehenden Anlagen mit der zusätzlichen Regel, dass die erste Fahrt immer auf Sicht durchzuführen ist
Der Ausstieg aus der Nutzung des Ersatzsignals wäre eine direkte Übernahme der Schweizer Lösung. Es würde dann an allen Signalen nur noch das Vorsichtsignal angewendet werden. Wenn nach der ersten Zugfahrt über einen gestörten Gleisabschnitt für folgende Züge das Fahren auf Sicht nicht mehr erforderlich ist und das Hauptsignal nicht auf Fahrt gestellt werden kann, besteht die Möglichkeit, den Triebfahrzeugführer durch schriftlichen Befehl vom Fahren auf Sicht zu entbinden. Dieser Fall ist heute im Befehlsvordruck als Befehl 13 bereits vorgesehen, er dürfte aber künftig erst ab dem zweiten Zug verwendet werden. Da ein umfassender Umbau bestehender Anlagen kaum in Frage kommt, könnte man die Bedeutung des bisher für das Ersatzsignal verwendeten Signalbildes im Sinne eines Vorsichtsignals ändern.
Die zweite Lösung würde eine Änderung in bestehenden Anlagen sowie eine Änderung der Bedeutung von Signalbildern vermeiden. Das Ersatzsignal kann in bestehenden Anlagen weiterhin verwendet werden, vor der Bedienung ist jedoch für den ersten Zug mit schriftlichem Befehl das Fahren auf Sicht anzuordnen. Wenn für folgende Züge das Fahren auf Sicht nicht mehr erforderlich ist, können diese Fahrten unmittelbar durch das Ersatzsignal zugelassen werden. Für Neuanlagen sollte aber entsprechend dem internationalen Standard ausschließlich das Vorsichtsignal zur Anwendung kommen.
Der Grundsatz, dass die erste Zugfahrt über den gestörten Abschnitt auf Sicht durchzuführen ist, gilt in beiden Lösungsvarianten auch bei Zulassung dieser Zugfahrt durch einen schriftlichen Befehl. Ebenfalls wäre das Fahren auf Sicht anzuordnen, wenn die erste Fahrt über den gestörten Abschnitt durch Hauptsignal zugelassen werden kann, das Hauptsignal sich jedoch nur nach einer Achzählgrundstellungbedienung auf Fahrt stellen lässt. Nach einer Fahrstraßenhilfsauflösung wäre diese Maßnahme nur dann erforderlich, wenn in einem Stellwerk mit Gleisfreimeldeanlagen die Hilfsauflösung aufgrund einer Auflösestörung erforderlich wird.
Mit der Umsetzung dieser Empfehlungen wird im Störungsfall das Risiko durch Fehlhandlungen deutlich reduziert. Negative Auswirkungen auf die Betriebsqualität sind bei ordnungsgemäß instand gehaltener Infrastruktur nicht zu erwarten, zumal auf zentralisierten Strecken mit selbsttätigem Streckenblock auch heute schon der erste Zug nach einer Störung häufig auf Sicht fahren muss.
Quellen
[1] Mitarbeiter begleiten und Handlungssicherheit stärken. Deine Bahn 12/2017. [2] van der Mark, P: Learning from a recent accident: Bad Aibling. IRSE News 227, November 2016, S. 14–15., Anm. d. Autors: Die 100 Kilometer pro Stunde (km/h) beziehen sich hier auf einen konkreten Unfall, die Zahl von drei Unfällen auf andere, im betreffenden Beitrag erwähnte Unfälle. [3] Götz., G.: 68 Jahre selbsttätige Zugsicherung bei der Berliner S-Bahn, Eisenbahnpraxis 31(1988)5.,S. 189–192. [4] Arnd, Behrens: Die selbsttätigen Signalanlagen der Deutschen Reichsbahn. Zeitschrift für das gesamte Eisenbahn-Sicherungswesen (Das Stellwerk), 26(1931)15, S. 185–190. [5] Behrens: Das Ersatzsignal. Zeitschrift für das gesamte Eisenbahn-Sicherungswesen (Das Stellwerk), 28(1933)8, S. 85–88. [6] Deutsche Bundesbahn: Sammlung signaltechnischer Verfügungen (SSV) DS 818, Ausgabe 1983. [7] Deutsche Reichsbahn: Grundsätze für die Ausgestaltung der Sicherungsanlagen auf Hauptbahnen und den mit mehr als 60 km/h befahrenen Nebenbahnen. gültig ab 30. April 1959, unter Berücksichtigung der bis 1. September 1990 eingetretenen Änderungen. [8] Deutsche Bahn AG: LST-Anlagen planen – Richtlinie 819. eingeführt am 31. August 1998. [9] Schweizerische Fahrdienstvorschriften FDV, R 300.1.15 vom 1. Juli 2016.Artikel als PDF laden