Die Digitalisierung des Bahnsystems in Deutschland war bereits im vergangenen Jahr ein Top-Thema in diversen Diskussionen unserer Fachbranche. Mit dem erklärten Ziel eines flächendeckenden Rollouts der Digitalen Leit- und Sicherungstechnik mit den Systemen Digitale Stellwerke und dem europäischen Zugbeeinflussungssystem ETCS hat die DB Netz AG die Vorreiterrolle für dieses strategische Thema übernommen. Das Programm „Digitale Schiene Deutschland“ dient in diesem Kontext sowohl als schlanke Organisation für die Konzeption und Umsetzung des Rollouts als auch für die umfassende Beteiligung sämtlicher relevanten Stakeholder im Bahnsektor in Deutschland.
Eine zentrale Grundlage für die Digitale Schiene Deutschland (DSD) bildet ein Betrieblich-Technisches Zielbild (BTZ), welches die funktionalen Anforderungen sowohl an den Betrieb (im Sinne der Disposition und operativen Durchführung des Bahnbetriebs) als auch an die hierfür erforderlichen technischen Systeme beschreibt. Zur Erstellung dieses BTZ wurde zunächst aus betrieblicher Sicht ein Katalog mit den für den Rollout erforderlichen betrieblichen Szenarien beziehungsweise Anforderungen erstellt mit dem strategischen Ziel, die Kapazität im Bestandsnetz zu optimieren und die aktuellen Betriebsverfahren generell zu vereinfachen. Ein Szenario beschreibt beispielsweise das schnellere und einfachere Wenden eines Zuges in einer Betriebsstelle beziehungsweise auf der Strecke unter Führung von ETCS.
Anforderungsmanagement: Technik folgt Prozess
Auf Basis dieser Szenarien wurden in einem zweiten Schritt technische Anforderungen an die beteiligten technischen Systeme (Digitale Stellwerke – DSTW, European Train Control System – ETCS, integriertes Leit- und Bediensystem – iLBS, Telekommunikation etc.) formuliert und mit den betrieblichen Szenarien verknüpft. Somit ist im Sinne eines stringenten Anforderungsmanagements stets klar nachvollziehbar, welche betriebliche Anforderung welche technische Anforderung zur Folge hat. Die bislang häufig praktizierte umgekehrte Vorgehensweise, dass ein technisches System aufgrund seiner fixen Bedienungsvorgaben konkrete betriebliche Prozesse erfordert, gehört damit der Vergangenheit an.
Dieses Vorgehen hat die Konsequenz, dass die DB Netz AG für die Beschaffung der technischen Systeme für die Digitale Leit- und Sicherungstechnik (DLST) den Herstellern vollständige Anforderungen in Form von Lastenheften übergeben muss, um die Konformität der zu entwickelnden Produkte mit den betrieblich-technischen Anforderungen aus dem BTZ sicherstellen zu können. Hierfür wurde aufbauend auf dem BTZ ein Technologie-Entwicklungsplan (TEP) erarbeitet, um die Anforderungen aus dem BTZ nach einem über alle Systeme abgestimmten Release-Plan in Lastenhefte und sonstige Anforderungsdokumente zu überführen. Durch die übergeordnete Release-Planung kann sichergestellt werden, dass die Lastenhefte zum Beispiel für DSTW und ETCS für ein definiertes Release auf einem einheitlichen Funktionsumfang beruhen und zueinander passfähig sind.
Technologie-Entwicklungsplan und Starterpaket-Projekte
Um die erforderliche Lastenheftgrundlage für den Flächen-Rollout zu erstellen, wurde der Technologie-Entwicklungsplan zunächst für den Zeithorizont 2030 erstellt. Bis zu diesem Zeitpunkt soll die Inbetriebnahme der sogenannten Starterpaket-Projekte als Grundlage für den weiteren Rollout erfolgen. Zu diesem Projekt-Portfolio zählen erstens das Projekt „Digitaler Knoten Stuttgart“ zur Ausrüstung des Bahnknotens Stuttgart mit DLST (siehe den Beitrag ab S. 22), zweitens die Erneuerung der LST auf der Schnellfahrstrecke Köln-Rhein/Main sowie drittens der gesamte Transeuropäische Netze (TEN)-Korridor Skandinavien–Mittelmeer (ScanMed) inklusive sämtlicher auf diesem Korridor liegenden Netzbezirke im Bereich der DB Netz AG.
Die Vorgehensweise und Ergebnisse aus dem BTZ und TEP können somit zunächst anhand dieser Projekte erprobt und gegebenenfalls adjustiert werden. Um die Lastenhefte den Herstellern rechtzeitig als Entwicklungsgrundlage übergeben zu können, umfasst der TEP zunächst drei Haupt-Releases, die im Zeitraum bis 2021, 2023, beziehungsweise 2025 fertiggestellt werden sollen. Auf dieser Basis werden die Hersteller beauftragt, die Entwicklung zunächst der generischen Produkte, zum Beispiel für die DSTW-Zentraleinheit oder die ETCS-Zentrale (RBC), durchzuführen, diese zur Zulassung zu bringen sowie anschließend die projektspezifische Konfiguration und Projektierung für die Erfordernisse der einzelnen Starterpaket-Projekte durchzuführen.
Wichtig in diesem Kontext ist, dass die Lastenhefte (auch wenn sie zunächst anlässlich der konkreten Starterpaket-Projekte erstellt werden) stets die Anforderungen an ein generisches Produkt enthalten und frei von den spezifischen Anforderungen einzelner Projekte sind. Anderenfalls könnte nicht sichergestellt werden, dass diese Lastenhefte anschließend auch die Grundlage für den folgenden Flächen-Rollout bilden können.
Frühzeitige Einbindung der Hersteller
Um den straffen Terminplan für die Inbetriebnahme der Starterpaket-Projekte einhalten zu können, ist es allerdings erforderlich, dass nicht nur der Zeitraum für die Erstellung der Lastenhefte, sondern auch der Zeitbedarf seitens der Hersteller, die Produkte zu entwickeln und zuzulassen, signifikant reduziert wird. Durch eine frühzeitige und transparente Beteiligung sämtlicher derzeit wie auch zukünftig im deutschen DLST-Markt aktiven Herstellerfirmen ist es möglich, dass die Entwürfe für die auf Basis der Lastenhefte zu erstellenden Pflichtenhefte bereits vor Freigabe der entsprechenden Lastenhefte seitens der Hersteller erstellt werden können.
Eine solche Form der Einbindung wurde beispielsweise bereits im Kontext der Lastenhefterstellung für die DSTW-Vorserienprojekte ab 2016 in Form von regelmäßigen Facharbeitskreisen erfolgreich praktiziert. Dabei wurden die Lastenhefte in eng getakteten Iterationen durch die DB Netz AG sukzessive erstellt und durch die Herstellerfirmen nach jeder Iteration einem Review unterzogen. Auf diese Weise konnten sämtliche inhaltlichen Fragestellungen und Entwürfe immer kurzfristig im Kreis aller Hersteller abgestimmt und das Ergebnis in das jeweilige Lastenheft überführt werden. Eine quasi parallele Erstellung von Lastenheft und Pflichtenheft muss somit auch das erklärte Ziel für die Umsetzung des Technologie- und Entwicklungsplans sein.
Die erste Probe aufs Exempel wird das BTZ und der TEP im Kontext des Projekts „Digitaler Knoten Stuttgart“ zu bestehen haben. In diesem Projekt soll unter anderem erstmals die einheitliche Bedienung von DSTW und ETCS mit Level 2 ohne Signale über das integrierte Leit- und Bediensystem zur Anwendung kommen. Hierfür sind die entsprechenden Lastenhefte nach der erläuterten Vorgehensweise auf Basis der Anforderungen aus dem BTZ zu erstellen und die entsprechenden Produkte seitens der Hersteller zu entwickeln und zuzulassen. Um den Inbetriebnahmetermin im Jahr 2025 nicht zu gefährden, sind die erforderlichen Lastenhefte gemäß TEP in Zusammenarbeit mit den Herstellern bis Mitte 2023 fertigzustellen und parallel dazu die Pflichtenhefterstellung sowie Produktentwicklung in Angriff zu nehmen.
Europaweite Harmonisierung der Systemarchitektur
Mit der vorliegenden Version für BTZ und TEP für den Zeithorizont 2030 ist die betrieblich beziehungsweise technologische Weiterentwicklung der DLST selbstverständlich nicht abgeschlossen – im Gegenteil: Bereits heute existieren Projekte auf europäischer Ebene (namentlich EULYNX und RCA – „Reference Command & Control System Architecture“), die federführend durch die europäischen Infrastrukturbetreiber, jedoch auch hier unter ständiger Beteiligung der Herstellerfirmen, die langfristige Entwicklung der DLST mit dem Ziel einer europaweit einheitlichen Systemarchitektur vorantreiben. Dabei sind beispielsweise bereits heute die aktuellen Lastenhefte für das DSTW vollständig harmonisiert mit den europäischen EULYNX-Spezifikationen für das System Stellwerk.
Angesichts der historisch gewachsenen nationalen Spezifika der einzelnen nationalen Bahnmärkte ist es das erklärte gemeinsame Ziel der europäischen Infrastrukturbetreiber und der Bahnindustrie, mittels einheitlicher Spezifikationen zu einer Harmonisierung sowohl der betrieblichen als auch der technischen Anforderungen für die DLST zu kommen. Damit kann einerseits die Interoperabilität im internationalen Bahnbetrieb vereinfacht und andererseits den Herstellern die Entwicklung und der Einsatz einer europaweit einsetzbaren Systemplattform für sämtliche Systeme der DLST ermöglich werden.
Das BTZ berücksichtigt und fordert die Einhaltung der EULYNX-Spezifikationen im Bereich der DB Netz AG bereits in seiner aktuellen Fassung. In einem weiteren Schritt wird das BTZ inklusive TEP dann über den Zeithorizont 2030 fortgeschrieben, um die betrieblich-technischen Anforderungen an die zukünftige DLST in Deutschland so zu spezifizieren, dass sie dauerhaft konform sein werden mit dem Zielbild der europäischen Zielarchitektur, welche im Projekt RCA entwickelt wird. Mit dem Projekt „Digitales Bahnsystem“ (DBS) wirkt die DB Netz AG bereits heute als einer der maßgeblichen Akteure in Abstimmung mit weiteren europäischen Infrastrukturbetreibern an der Gestaltung der RCA-Zielarchitektur mit.
Fazit
Die DB Netz AG hat mit dem Programm „Digitale Schiene Deutschland“ die Weiterentwicklung des heutigen Bahnbetriebs inklusive der Bestandssysteme der Leit- und Sicherungstechnik hin zu einer konsequenten Vereinfachung und Standardisierung der technischen Systeme und betrieblichen Regelwerke bereits konkret in Angriff genommen.
Hiermit einher geht ein grundlegender Wandel in der Vorgehensweise zur Festlegung von Anforderungen an technische Systeme und Betriebsprozesse: War in der Vergangenheit primär die Technik die Quelle von Anforderungen, sind mit dem nun vorliegenden Betrieblich-Technischen Zielbild konsequent die zukünftigen betrieblichen Prozesse als die Quelle sämtlicher Anforderungen an die technischen Systeme (insbesondere DSTW, ETCS und iLBS) festgelegt worden. Diese Methodik wird nun zunächst im Rahmen der Starterpaket-Projekte gemeinsam mit sämtlichen relevanten Akteuren im Bahnsektor erprobt und gegebenenfalls adjustiert, um als Grundlage für den anschließenden Flächen-Rollout der Digitalen LST im gesamten deutschen Bahnnetz dienen zu können.
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