Allzu lange haben Bund und Politik den strategisch so wichtigen Bereich Forschung und Entwicklung beim Verkehrsträger Schiene vernachlässigt. Inzwischen aber wurde erkannt, welch hohen Nachholbedarf das System Bahn in puncto Innovationsfähigkeit hat. Das zeigt zum Beispiel die Gründung des Deutschen Zentrums für Schienenverkehrsforschung (DZSF): Die Ressortforschungseinrichtung des Bundes nimmt eine zentrale Position in der Wissenschaftslandschaft ein und soll helfen, systematisch Innovationen für die Schiene hervorzubringen. DZSF-Direktorin Prof. Dr.-Ing. Corinna Salander erläutert im Gespräch mit Deine Bahn, wie weit das Zentrum seit seiner Gründung 2019 gekommen ist und welche Ziele es für die Zukunft verfolgt.
Deine Bahn: Frau Salander, die Ampel steht und die Bundesregierung hat ihren Koalitionsvertrag vorgelegt. Trifft er Ihre Erwartungen in Bezug auf die Schienenverkehrsforschung?
Corinna Salander: Auf jeden Fall! Mit großer Freude habe ich gelesen, dass nicht nur das DZSF explizit gestärkt, sondern auch die Ressortforschung insgesamt weiterentwickelt werden soll. Ansonsten geht die neue Regierung wie erhofft nicht hinter die Forderungen der alten zurück, im Gegenteil. Auch diese Regierungskoalition misst dem Schienenverkehr grundsätzlich eine hohe Aufmerksamkeit als wichtigem Bestandteil von Verkehrswende und Klimaschutz bei.
Im Vorfeld der Verhandlungen wurde das Thema der Trennung von Infrastruktur und Bahnbetrieb sehr kontrovers diskutiert. Laut Koalitionsvertrag soll die Deutsche Bahn AG letztendlich als integrierter Konzern erhalten und ihre Infrastruktureinheiten gemeinwohlorientiert zusammengelegt werden. Was bedeuten diese Festlegungen für das DZSF?
Als Ressortforschungseinrichtung des BMVI ist es nicht zuletzt unsere Aufgabe, eine wissenschaftsbasierte Politikberatung für den Schienenverkehr zu gewährleisten. Wenn das DZSF also aufgefordert wird, zu einzelnen Aspekten eine wissenschaftliche Einschätzung abzugeben, dann sind wir vorbereitet.
Welche Herausforderungen müssen aus Ihrer Sicht zuerst angepackt werden, damit die Schiene das Verkehrsmittel des 21. Jahrhunderts wird, wie die Politik gerade als Slogan verwendet, und wie kann das DZSF dabei helfen, diese zu bewältigen?
Abgesehen vom Ausbau der Infrastruktur spielt natürlich insbesondere die effiziente Ausnutzung der bestehenden Strecken eine entscheidende Rolle. Das betrifft sowohl so bekannte Fragen wie die Kapazitätsoptimierung von Knoten als auch ganz neue Themen wie eine kapazitätsoptimierte Vegetationsplanung, die Stürmen trotzen oder Böschungsbrände vermeiden helfen und so die Verfügbarkeit der Strecken erhöhen kann. Natürlich werden die Rahmensetzung für automatisiertes Fahren oder die begleitenden Maßnahmen für die erfolgreiche Reaktivierung stillgelegter Strecken von uns untersucht. Auch Forschungen zur resilienten Infrastruktur oder zur Verbesserung der Instandhaltbarkeit von Ingenieurbauwerken und rollendem Material sind hier zu nennen.
Dieses Interview wird im Rahmen eines Themenschwerpunktes Umwelt und Nachhaltigkeit veröffentlicht. Vor kurzem erst haben Sie die „Goldene Umweltschiene“ des Bundesverbands Führungskräfte der Bahnen verliehen bekommen. Welche zentralen Projekte im Nachhaltigkeitsbereich gibt es derzeit beim DZSF und welche Themen in diesem Zusammenhang sehen Sie als bedeutend für die Zukunft an?
Die Flutkatastrophen im vergangenen Jahr haben sicherlich allen die Bedeutung von resilienter Infrastruktur vor Augen geführt. Hierzu haben wir neben der bereits erwähnten Vegetationsoptimierung noch viele weitere Projekte. Wir beschäftigen uns mit Instandhaltbarkeit, mit Karten zu Hangrutschungsgebieten und mit einer verkehrsträgerübergreifenden Geodatenplattform, um nur einige zu nennen.
Im Bereich Emissionsreduktion befassen wir uns mit der Vermeidung von Glyphosat zur Gleispflege. Wir bauen auch ein Netz von Messstellen auf, mit dem die Zusammensetzung von Niederschlagswasser aus dem Gleiskörper untersucht wird. Eines meiner Lieblingsprojekte, an dem wir selbst auch mitforschen, ist Balin, das sich dem Insektenschutz durch insektenfreundliche Beleuchtung an Bahnhöfen widmet. Auch das ist Teil eines nachhaltigen Bahnsystems, das unser Ökosystem bewahren hilft.
Das DZSF besetzt eine Leerstelle in der Schienenverkehrsforschung. Welche Funktion besitzt die Ressortforschung in der bundesdeutschen Förderlandschaft und wie unterscheidet sie sich von der klassischen Wirtschafts- oder Industrieforschung?
Als mit der Bahnreform 1994 die Bundes- und Reichsbahnzentralämter aufgelöst wurden, bedeutete das auch das Ende für eine durch die öffentliche Hand gelenkte Forschung im Eisenbahnwesen. Künftig waren allein Hersteller und Betreiber für die Weiterentwicklung des Systems verantwortlich. Das ist erst einmal gut und sollte auf jeden Fall auch beibehalten werden. Dennoch gibt es daneben auch staatliches Interesse an Themen, die zum Beispiel der Anpassung von Regelwerken oder zur Stärkung der Daseinsvorsorge dienen und damit nicht zwingend betriebswirtschaftlichen Kriterien genügen.
Und genau an dieser Leerstelle kommt nun die Ressortforschung zum Tragen: Das DZSF identifiziert, koordiniert und steuert in enger Abstimmung mit dem Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) Forschungsaktivitäten, die als Auftragsforschung vergeben oder in Eigenforschung bearbeitet werden. Damit wird dem Bund eine umfassende Expertise zur Verfügung gestellt, mit der die ganze Themenvielfalt der Schienenverkehrsforschung anwendungsnah und lösungsorientiert zur wissenschaftlich fundierten Politikberatung bearbeitet werden kann.
Das DZSF stellt so eine Ergänzung zum bestehenden Wissenschaftsbetrieb der universitären und außeruniversitären Forschungslandschaft dar – eben mit dem Unterschied, neben der Eigenforschung vor allem auch durch Auftragsforschung die politisch und gesellschaftlich wichtigen Themen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen so zu untermauern, dass eine fundierte Politikberatung möglich ist. Und dies ist ja gerade eine der Kernaufgaben der Ressortforschung.
Die politische Verwertbarkeit der geförderten Projekte soll also von Vorneherein mitgedacht werden und Anstöße zu notwendigen Innovationsprozessen gegeben werden. Können Sie dafür noch ein Beispiel geben?
Die Untersuchungen zu begleitenden regulativen, kommunalen Maßnahmen für die Reaktivierung stillgelegter Strecken oder auch zu Rahmenbedingungen für das automatisierte Fahren habe ich ja schon genannt. Aber es gibt auch große Projekte wie die Digitale Automatische Kupplung, deren Umsetzung und Einführung inzwischen auch auf die Agenda der EU gesetzt worden ist.
Neben eigenen Forschungsaktivitäten und -vergaben soll das DZSF auch den Wissenstransfer zwischen Bahnbranche und Wissenschaft fördern. Wie weit ist das DZSF an dieser Stelle, ist eine gewisse Akzeptanz der Branche bereits zu bemerken?
Wir haben von dem Moment an, als genug personelle Ressourcen an Bord gekommen waren, den systematischen Austausch mit allen Akteuren im Sektor gesucht. Die Branche hat uns von Anfang an mit offenen Armen empfangen und arbeitet seitdem eng mit uns zusammen. Zu den Akteuren gehört das Eisenbahn-Bundesamt (EBA), das aufgrund seiner hoheitlichen Aufgaben das Ohr wortwörtlich auf der Schiene hat. Und es gehören alle Verbände dazu, Wissenschaftler von universitären und außeruniversitären Einrichtungen und unser wissenschaftlicher Beirat. Außerdem können sich die Stakeholder in den forschungsbegleitenden Arbeitskreisen engagieren, die wir bei nahezu allen Projekten einrichten. Damit wird der bestehende Wissensstand in unsere Arbeit integriert und wir können sicherstellen, dass wir mit unseren Forschungsideen nicht am politischen und gesellschaftlichen Bedarf vorbeilaufen. Darüber hinaus stellen wir alle unsere Forschungsergebnisse öffentlich zur Verfügung. Und wir sind gerade dabei, die Datenbanken, die speziell zum Eisenbahnlärm und zur Eisenbahnforschung im Auftrag des BMVI angelegt wurden, auf unsere Server zu migrieren.
Welches Zwischenfazit ziehen Sie nach zwei Jahren, welche Schwerpunkte und Aktionen plant das DZSF für das kommende Jahr?
Ich blicke sehr dankbar auf die vergangenen zwei Jahre zurück. Wir haben trotz der coronabedingten Einschränkungen unsere Aufgaben aus dem ersten Bundesforschungsprogramm Schiene bearbeitet und es sogar in diesem Sommer fortgeschrieben. Die Vielfalt und Relevanz unserer Projekte habe ich ja schon dargestellt. Diese werden uns mit Auftrags- und Eigenforschung auch im kommenden Jahr begleiten und den wesentlichen Kern unserer Arbeit ausmachen.
Als besonderes Highlight konnten wir im Juli dieses Jahres unser Offenes Digitales Testfeld eröffnen. In Kooperation mit der DB Netz AG wollen wir auf einem 350 Streckenkilometer umfassenden Gebiet zwischen Halle (Saale), Cottbus und Niesky unsere Forschungsprojekte durch eine Validierung im Realbetrieb oder mit einem Reallabor unterstützen. Dieses Testfeld nun auch mit Leben zu füllen, ist eine der wichtigsten Vorhaben für das kommende Jahr.
Außerdem fand der Forschungsworkshop von BVMI und DZSF in diesem Jahr bereits zum sechsten Mal statt und wird in den kommenden Jahren weiter ausgebaut. Ebenso durften wir in diesem Jahr den dritten Schienengipfel des BMVI mitgestalten. Daneben haben wir erste fachspezifische Konferenzen zu Einzelthemen veranstaltet, die sich im digitalen Format sehr bewährt haben. Hier denken wir natürlich über weitere Veranstaltungen im nächsten Jahr nach.
Voraussetzung für unsere Leistungsfähigkeit war aber vor allem unser personeller Aufbau. Wir haben unter Corona-Bedingungen in den vergangenen 2 Jahren 45 neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an Bord geholt. Dass das so gut geklappt hat, ist eine tolle Leistung der jeweils bereits Anwesenden. Die „alten“ haben die „neuen“ bestens integriert, und es hat sich ein wirklich gutes Team aufgebaut.
Sie streichen oft heraus, dass der Frauenanteil beim DZSF bei über 40 Prozent liegt. Insgesamt hat die Bahnbranche an dieser Stelle aber nach wie vor Nachholbedarf. Was können Sie der Branche raten?
Uns hat sicher geholfen, dass wir auch Berufsgruppen einstellen konnten, in denen der Anteil der Studentinnen schon hoch ist, so dass sich auch mehr Frauen beworben haben. Und jetzt gehen diese Frauen nach außen, sie zeigen sich als Projektleiterinnen unserer Auftragsforschung oder in ihren Eigenforschungsprojekten. Das hat hoffentlich Vorbildfunktion – denn Vorbilder sind in meinen Augen das wichtigste Instrument, um andere Frauen für die Branche zu begeistern.
Mit der Erhöhung des Frauenanteils allein wird der Fachkräftemangel in der Branche nicht zu beheben sein. Was muss sich an der Basis, also an den Schulen, Hochschulen und in der Aus- und Weiterbildung ändern?
Was genau sich ändern sollte – oder auch, was jetzt schon besonders gut läuft – untersuchen wir gerade im Rahmen zweier Studien, die aus dem Masterplan Schiene kommen. Die eine befasst sich mit der Hochschulausbildung an Universitäten und Fachhochschulen. Die zweite hat die Weiterbildung für Quereinsteiger und solche Fachkräfte, die sich bereits in der Branche befinden, im Blick. Die Analyse und die Handlungsempfehlungen beider Studien sollen aufzeigen, welche Möglichkeiten der Bund unter Berücksichtigung der Bildungshoheit der Länder hat, die Nachwuchsgewinnung und -ausbildung zu fördern. Es zeichnet sich aber schon ab, dass die Qualität der Angebote auf allen Ebenen sehr, sehr gut ist, dass wir die Kapazitäten allerdings enorm ausbauen müssen, um dem Bedarf gerecht zu werden. Die Fachkräfte, welche die Babyboomer-Jahrgänge in ein paar Jahren ersetzen sollen, müssen doch jetzt bereits ausgebildet werden.
Was könnte man noch tun?
Wenn ich mir etwas wünschen darf, möchte ich an die DB und die Verkehrsbetriebe appellieren: Wir sollten gemeinsam mit allen Akteuren die Werbeflächen an den Bahnhöfen und auf den Fahrzeugen nutzen, um für die Branche als Ganzes zu werben. Für die Bahn zu arbeiten, macht Freude, ist erfüllend und gelebter Klimaschutz, das kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Und alle Bereiche und Unternehmen des Sektors brauchen den Nachwuchs. Hier sollten wir also zusammenhalten.
Erlauben Sie zum Schluss eine persönliche Frage: Neben Ihrer Arbeit beim DZSF haben Sie noch eine Honorarprofessur an der Universität Stuttgart inne. Das scheint ein überaus anspruchsvolles Programm zu sein, nicht zuletzt in puncto Arbeitsproduktivität und -belastung. Deshalb diese letzte Frage: Wie entspannen Sie sich?
(überlegt kurz): Ich unterscheide zwischen Entspannen und Abschalten: Ich entspanne mich bei intelligenten, geistreichen Gesprächen. Beim Sudoku hingegen kann ich ganz hervorragend abschalten.
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