Das Vierte Eisenbahnpaket mit seiner politischen und technischen Säule bringt wesentliche Änderungen für den europäischen Eisenbahnsektor und verändert viele bisher gewohnte Prozesse und Zuständigkeiten grundlegend. Herauszuheben ist dabei die neue Rolle der Europäischen Eisenbahnagentur in Valenciennes in den Bereichen Sicherheitsbescheinigungen, Fahrzeugzulassungen und Zulassungen des streckenseitigen europäischen Zugsicherungssystems ERTMS. Es ändern sich aber nicht nur Prozesse und Zuständigkeiten. Das Vierte Eisenbahnpaket ist ein weiterer und großer Schritt auf dem Weg zur Realisierung des einheitlichen europäischen Eisenbahnraumes (SERA – Single European Railway Area).
Nach der Verschiebung des ursprünglichen Termins 16. Juni infolge der COVID-19-Pandemie wird die technische Säule des Vierten Eisenbahnpakets im Herbst 2020 in allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union umgesetzt. Das bedeutet, die europäischen Rechtstexte werden, soweit erforderlich, in nationales Recht umgesetzt. Dies betrifft natürlich auch Deutschland und Österreich. Besondere Vereinbarungen wurden zwischen der Europäischen Union und der Schweiz getroffen.
Langfristiges Ziel ist es, Reisende und Güter ohne regulative oder technische Behinderungen und Einschränkungen quer über den europäischen Kontinent zu transportieren. Ein wesentlicher Schritt wurde mit der Vereinheitlichung der Zulassungsverfahren auf europäischer Ebene erreicht, ein weiterer Schritt wird die Schaffung einer gemeinsamen und einheitlichen Sicherheitskultur in Europa sein. Die Umsetzung des Vierten Eisenbahnpakets und zukünftige Entwicklungen im Eisenbahnsektor haben erhebliche Auswirkungen auf das Eisenbahnpersonal in Europa, dessen Einsatz und zukünftig auch auf dessen Arbeitsweise.
Erleichterung der internationalen und grenzüberschreitenden Verkehre
Eine Maßgabe bei der Gestaltung des Vierten Eisenbahnpakets war die weitere Erleichterung von internationalen und grenzüberschreitenden Verkehren in Europa durch kontinuierliche Schaffung von mehr Interoperabilität. Es gilt dabei aber nicht nur das Augenmerk auf technische Interoperabilität zu legen, sondern auch die notwendigen Rahmenbedingungen für die Arbeit des Eisenbahnbetriebspersonals auf europäischer Ebene zu schaffen.
Triebfahrzeugführer und das Bordpersonal im internationalen und grenzüberschreitenden Güter- und Personenverkehr müssen über die erforderlichen eisenbahnbetrieblichen Fachkompetenzen hinaus über Fremdsprachkenntnisse verfügen, die nach EU-Recht erforderlich sind. Des Weiteren ist die Verfügbarkeit des Personals ein Schlüsselelement auch bei der Bewältigung von Ausnahmesituationen und größeren betrieblichen Störungen. Eine schnelle Weiterentwicklung der entsprechenden Kompetenzen und Personalkapazitäten sind hier erforderlich. Die Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums, der die Wettbewerbsposition des Eisenbahnsektors gegenüber anderen Verkehrsträgern unterstützen kann, hängt auch von der Verfügbarkeit qualifizierten Personals in Verbindung mit der Verfügbarkeit sicherer Betriebsalternativen und Optionen ab, die volle Flexibilität bei Störungen ermöglichen.
Bezüglich der Sprachkompetenzen geht die jüngste Änderung der Richtlinie 2007/59/EG durch die Verordnung 2019/554, über die Zertifizierung von Triebfahrzeugführern, die Lokomotiven und Züge im Eisenbahnsystem in der Gemeinschaft führen, in die richtige Richtung, indem sie verbindliche Maßnahmen zum Bearbeiten und Testen sicherer alternativer Optionen zu den bestehenden Sprachanforderungen vorgibt (mit der notwendigen Ausnahme, die von der Europäische Kommission gewährt werden muss).
Sicherheitskultur (Safety Culture)
Die technische Säule des Vierten Eisenbahnpakets, namentlich die Richtlinie 2016/798 über Eisenbahnsicherheit und die daraus abgeleiteten delegierten Rechtsakte, insbesondere die delegierte Verordnung (EU) 2018/762 über gemeinsame Sicherheitsmethoden bezüglich der Anforderungen an Sicherheitsmanagementsysteme (CSM SMS), bestimmen für die Eisenbahnunternehmen die Einführung einer positiven Sicherheitskultur und die Integration der menschlichen und organisatorischen Faktoren in das für die Sicherheitsbescheinigung notwendige Sicherheitsmanagementsystem (SMS).
Der gesamte europäische Eisenbahnsektor – in diesem Sinne die Vertreter der Eisenbahnverkehrsunternehmen und der Eisenbahninfrastrukturunternehmen – namentlich CER und EIM (European Railway Infrastructure Managers) – die nationalen Sicherheitsbehörden, die Europäische Eisenbahnagentur (ERA) sowie andere Sektorverbände inklusive dem Internationalen Eisenbahnverband UIC – arbeitet eng zusammen, um die Weiterentwicklung der Sicherheitskultur und die Integration menschlicher und organisatorischer Faktoren in die Unternehmen zu unterstützen. Dies geschieht unter anderem durch Sensibilisierung der Akteure für dieses Thema. Gemeinsame Leitfäden und Konzepte für Schulung oder auch die Definition von Sicherheitskulturkomponenten bereiten diesen Weg der Schaffung einer europäischen Sicherheitskultur.
Um diese Sicherheitskultur zu erreichen und die menschlichen und organisatorischen Faktoren umfänglich zu integrieren, ist ein ganzheitlicher Ansatz für das Eisenbahnsystem erforderlich, das die Fahrzeughersteller und Dritte wie zum Beispiel die nationalen Ermittlungsbehörden einbezieht.
Wettbewerb und Personalgewinnung
Die Öffnung des inländischen Personenverkehrsmarktes infolge der Umsetzung der sogenannten politischen Säule des Vierten Eisenbahnpakets wird dazu führen, dass die im Wettbewerb stehenden Unternehmen den Faktoren Produktivität und Leistung höchsten Stellenwert beimessen werden. Technologische Entwicklungen werden in diesem Zusammenhang hilfreich sein. Die entsprechenden Auswirkungen auf das Aufgabenspektrum der Belegschaft und auf das weitere organisatorische Umfeld müssen im Voraus prognostiziert, kommuniziert und geplant werden.
In einem wettbewerbsintensiveren Umfeld stehen Unternehmen besonders vor der Herausforderung, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit den richtigen Talenten und den notwendigen Fähigkeiten anzuziehen und ein attraktiver Arbeitnehmer zu sein. Die Steigerung der Attraktivität der Arbeit in Eisenbahnunternehmen, insbesondere im Vergleich zu anderen Sektoren, erfordert Maßnahmen in verschiedenen Bereichen. Es ist die Hauptaufgabe der Eisenbahnunternehmen, gute Arbeitsbedingungen aufrechtzuerhalten oder zu schaffen.
Ein wichtiges Augenmerk richtet sich darauf, unterrepräsentierte Gruppen im Eisenbahnsektor, wie zum Beispiel Frauen und Jugendliche, anzusprechen. Als übergreifende Aktivität gilt es, ein gutes Arbeitgeberprofil zu entwickeln und die Berufe und Beschäftigungsangebote im Eisenbahnsektor mit einer positiven Konnotation zu bewerben.
Europäischer Fokus auf Beschäftigungsentwicklung
Die Mitglieder der CER begegnen diesen Herausforderungen mit Initiativen auf Unternehmens- und nationaler Ebene und nutzen die Plattformen auf EU-Ebene, um die Situation gemeinsam zu analysieren, bewährte Verfahren auszutauschen und Ideen und Lösungen zu entwickeln, die wiederum auf Länderebene umgesetzt werden können.
Ein besonderes Forum für den Austausch in Fragen des Eisenbahnpersonals ist das Europäische Komitee für den „EU Sektoralen Sozialen Dialog Eisenbahn“, in dem sich Vertreter von Unternehmen und Gewerkschaften aus ganz Europa treffen und zusammenarbeiten. Derzeit führen die europäischen Sozialpartner CER und ETF (European Transport Workers Federation) ein Projekt durch, das sich mit der Beschäftigungsfähigkeit des Eisenbahnpersonals und den Auswirkungen großer Trends wie Digitalisierung und Automatisierung befasst. Darüber hinaus verhandeln die beiden Sozialpartner auf EU-Ebene ein Abkommen zur Förderung der Beschäftigung von Frauen in diesem Sektor.
Ausblick
Das Vierte Eisenbahnpaket ist Herausforderung und Chance zu gleich. Viele Prozesse, Regeln und Zuständigkeiten im Eisenbahnsektor verändern sich, neue Akteure treten auf und zunehmender Wettbewerb zwischen den Eisenbahnunternehmen bestimmt das Geschäft. Die Eisenbahnen haben sich nicht nur den Herausforderungen der technologischen und administrativen Änderungen zu stellen, sondern sich als attraktiver Arbeitgeber in Zeiten von Fachkräftemangel zu positionieren. Der Mensch wird bei der Eisenbahn als hoch komplexes System auch in Zukunft eine entscheidende Rolle spielen. Die Eisenbahnen stellen sich den Herausforderungen der Zukunft – als Rückgrat der sicheren und nachhaltigen europäischen Mobilität und als attraktiver Arbeitgeber.
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