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Digitalisierung des Eisenbahnsektors

Anwendung der Fahrdienstvorschrift für den digitalen Bahnbetrieb

Foto: DB Netz AG/Stephan Altmann
Foto: DB Netz AG/Stephan Altmann

Die Bundesinitiative Digitale Schiene Deutschland (DSD) sieht in den nächsten Jahren eine Digitalisierung des Eisenbahnsektors in Deutschland vor. Ein Teil dieser Digitalisierungsprojekte sind die flächendeckende Einführung von ETCS Level 2 ohne Hauptsignale (L2oS) als neues Zugbeeinflussungssystem und das automatische Fahren in unterschiedlichen Automatisierungsstufen. Einhergehend mit diesen anstehenden Veränderungen wird die Gelegenheit genutzt, die betrieblichen Prozesse von Grund auf neu zu denken.

Wie in Deine Bahn 10/2021 beschrieben, musste sich der Betrieb in der Vergangenheit den technischen Neuerungen anpassen. Dies ändert sich in Zukunft im Rahmen des Anforderungsprozesses des Betrieblichen Zielbildes. Unter dieser Prämisse erarbeitet das Projekt die Fahrdienstvorschrift für den digitalen Bahnbetrieb (Richtlinienfamilie 400), die im vorliegenden Artikel näher beschrieben wird. Das Hauptziel des Projekts ist es, den Anwendenden eine komplexitätsreduzierte und nutzerfreundliche Fahrdienstvorschrift zur Verfügung zu stellen.

Prämissen für die Neugestaltung des Regelwerkes

Als Basis für die Erstellung der neuen Fahrdienstvorschrift für den digitalen Bahnbetrieb dienen sechs Prämissen (Abbildung 1).

Abbildung 1: Grundsätzliche Prämissen bei der Erstellung des neuen Regelwerks
Abbildung 1: Grundsätzliche Prämissen bei der Erstellung des neuen Regelwerks (Quelle: DB Netz AG)

Ziel des neuen Regelwerkes ist, durch eine anwenderfreundliche und übersichtliche Gestaltung eine Erleichterung des Arbeitsalltages für alle Anwendenden zu erreichen. Dabei kommen neben verständlicher Sprache auch etwa Ablaufdiagramme und tabellarische Übersichten zum Einsatz. Diese neuen Möglichkeiten der Darstellung von Regelwerksinformationen werden in einem ausschließlich digitalen Regelwerk zum Einsatz kommen. Die Herausgabe einer papierbasierten Version ist nicht mehr vorgesehen.

Wie eingangs erwähnt, soll das Regelwerk eine geringe Komplexität aufweisen. Dabei gilt die Devise „Grundsatz vor Ausnahme“ mit dem Ziel, keine bauartbedingten Besonderheiten mehr zu regeln. Außerdem sollen die Regeln so eindeutig sein, dass Fehlinterpretationen vermieden werden. Abschließend werden zukünftig die Regeln eine positive Formulierung erhalten und damit Gebote vor Verboten im Regelwerk realisiert.

Orientierungswechsel in der Regelwerksgestaltung

Um diese sechs Prämissen zu erreichen, erfolgt ein inhaltlicher Wandel in der Regelwerksgestaltung. Dabei sind zwei Dimensionen zu unterscheiden (Abbildung 2).

Abbildung 2: Regelwerksphilosophien
Abbildung 2: Regelwerksphilosophien (Quelle: DB Netz AG)

Das heutige Regelwerk ist handlungs- und funktionsorientiert. Alle möglichen Handlungsoptionen, die durch die Bedienenden anzuwenden sind, werden im Regelwerk beschrieben. Bei Einhaltung dieser Vorgaben verbleibt somit der Anwendende immer auf einem sicheren Handlungspfad. Dazu ergänzend liegt der historisch gewachsenen Fahrdienstvorschrift ein funktionsorientierter Aufbau zugrunde, der über alle unterschiedlichen infrastrukturellen Ausrüstungszustände die Funktionen des Bahnbetriebs in den einzelnen Richtlinien des Regelwerks zusammenführt.

Diese Art und Weise der Gestaltung von Regelwerk zeigt sich aber aufgrund von vielen Aspekten als nicht mehr zeitgemäß. So ist es zwar ein Vorteil der Funktionsorientierung, möglichst viele Infrastrukturausrüstungszustände auf kompakten Raum darzustellen, wohingegen dies aber auch einen Komplexitätstreiber des Regelwerks darstellt. Weiterhin ergibt sich aus dem Regelwerk für den Anwendenden kein kompletter Prozess des Bahnbetriebs. Dieser entsteht durch Ausbildung und Qualifikation der Regelwerksnutzenden. Darüber hinaus ist es nahezu unmöglich, alle Handlungsoptionen im Regelwerk vollständig und widerspruchsfrei abzubilden.

Diesem Aufbau gegenüber steht das Ziel eines schutzziel- und prozessorientierten Regelwerks für den Bahnbetrieb der Zukunft mit ETCS L2oS. Dabei basiert die Philosophie der Sicherheit auf der Kenntnis und dem umfänglichen Verständnis der Schutzziele sowie der anzuwendenden Prozesse. Somit werden die Bedienenden in die Lage versetzt, eigenverantwortlich unter Beachtung der gültigen Schutzziele festzustellen, ob eine Handlung unter Einhaltung der Schutzziele (Abbildung 3) möglich und zulässig ist.

Abbildung 3: Schutzziele der neuen Fahrdienstvorschrift
Abbildung 3: Schutzziele der neuen Fahrdienstvorschrift (Quelle: DB Netz AG)

Hierbei können sich mehrere Handlungsoptionen ergeben, die nicht explizit im Regelwerk aufgezählt werden, aus denen aber die Anwendenden eigenständig für die vorliegende Situation auswählen bzw. entscheiden können. Dazu passt ein prozessorientierter Regelwerksaufbau, der die Handlungsabfolgen der Anwendenden und die Prozesse, die zur Durchführung der Fahrten und die damit verbundenen Rahmenbedingungen notwendig sind, beschreibt (siehe dazu auch den folgenden Abschnitt und Abbildung 4).

Die oben genannten Nachteile des funktions- und handlungsorientierten Regelwerksaufbaus werden mit der Gestaltung als schutzziel- und prozessorientiertem Regelwerk behoben und somit wird ein Regelwerk geschaffen, dass dem Stand der Zeit und der Entwicklung bzw. den Rahmenbedingungen der neuen Techniken gerecht wird.

Struktur des neuen Regelwerks

Um eine solide Regelwerksstruktur zu erhalten, umfasst die Richtlinienfamilie 400 einen prozessualen Aufbau, der sich an den Abläufen einer Fahrt mit allen darauf einwirkenden Größen innerhalb und außerhalb des eigentlichen Fahrtablaufs orientiert (Abbildung 4). Der dargestellte Detailprozess zeigt den Ablauf einer Fahrt im Bahnbetrieb der Zukunft mit allen darauf einwirkenden Größen innerhalb und außerhalb des eigentlichen Fahrtablaufs. Dabei wurden bewusst Begriffe aus dem heutigen Sprachgebrauch der Richtlinienfamilie 408 gemieden, um eine Verwechslung zu verhindern.

Abbildung 4: Detailprozess des Ablaufs einer Fahrt im zukünftigen Bahnbetrieb
Abbildung 4: Detailprozess des Ablaufs einer Fahrt im zukünftigen Bahnbetrieb (Quelle: DB Netz AG)

Wie auch aus dem Artikel zum Betrieblichen Zielbild in Deine Bahn 10/2021 hervorgeht, ist Ziel des neuen Regelwerks, langfristig die Unterscheidung zwischen Bahnhof und freier Strecke aufzuheben. Darüber hinaus wird die Differenzierung zwischen Zug- und Rangierfahrten – zumindest aus betrieblicher Sicht – aufgelöst und dafür eine Staffelung der Fahrten nach ETCS-Betriebsarten erfolgen. Dazu wird die Definition einiger neuer Begriffe erforderlich. Dies zeigt die Tabelle 1.

Tabelle 1: Definitionen des neuen Betriebsverfahrens
Tabelle 1: Definitionen des neuen Betriebsverfahrens (Quelle: DB Netz AG)

Im Wesentlichen lässt sich dieser Detailprozess (s. Abbildung 4) in drei Teilen betrachten:

  • Grüne Umrandung: stellt die Abwicklung einer Fahrt in einem Fahrtabschnitt dar. Dabei wird dieser Teil des Prozesses so lange endlich wiederholt, bis die Fahrt das Fahrtziel erreicht hat.
  • Rote Umrandung: schließt den grünen Prozessteil mit ein. Er beinhaltet damit neben den oben erläuterten Schritten zusätzlich alle Prozesse der Vor- und Nachbereitung von Fahrten bevor bzw. nachdem die Fahrt durchgeführt wird/wurde.
  • Gelbe Umrandung: Neben den fahrtbezogenen Prozessen sind auch Prozesse erforderlich, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Fahrten stehen, sondern nur eine Rückwirkung darauf haben (z.B. Arbeiten an der Infrastruktur wie Sperren von Gleisen oder Instandhaltungsarbeiten an einem Bahnübergang).

Darüber hinaus sei an dieser Stelle erwähnt, dass die Ordnung der Prozessteile innerhalb des roten und grünen Rahmens einen Ausdruck der Sicherheitsverantwortung darstellt, die durch die Bedienenden übernommen werden muss. Es zeigt sich ausgehend von den erläuterten Grundsätzen (wie etwa der heutigen Unterscheidung zwischen Zug- und Rangierfahrten), dass die heute etablierten Begriffe Regelbetrieb und Abweichungen vom Regelbetrieb bzw. Störungen nur beschränkt angewendet werden können. Vielmehr muss zukünftig davon ausgegangen werden, zu welchen Anteilen die technische Ausrüstung der Infrastruktur bei bestimmten Handlungen noch zur Verfügung steht bzw. wie viel aktives, verantwortungsvolles Handeln durch die Bedienenden erforderlich wird, um Ausfälle der technischen Anlagen zu kompensieren. Dabei kann aus dem Detailprozess erkannt werden, ob eine Fahrt mit hoher technischer Verfügbarkeit (weiter oben im Detailprozess) oder geringerer technischer Verfügbarkeit (weiter unten im Detailprozess) durchgeführt werden muss.

Ausgehend von dieser grundsätzlichen Einordnung erfolgt nun eine Betrachtung der einzelnen Prozessteile. Eine Fahrt beginnt grundsätzlich am linken Rand des Prozesses mit dem Erfordernis einer Fahrt („Start der Fahrt“). Dabei ergibt sich als erster Handlungsschritt, dass auf der Seite des Eisenbahnverkehrsunternehmens (EVU) die Fahrtbereitschaft des Zuges hergestellt werden muss (dazu gehören Aspekte wie Bremsprobe, Wagenprüfung, Prüfung der Zugbeeinflussungsanlagen usw.), um eine Fahrt durchführen zu können („Fahrtbereitschaft herstellen“).

Nachdem an dieser Stelle schon Abweichungen von den Regelprozessen auftreten können, wird ein Prozessschritt „Fahrtbereitschaft hilfsweise herstellen“ angeführt, der Ersatzmaßnahmen für die betrieblichen und technischen Vorbereitungsarbeiten an Fahrzeugen vorgibt. Dabei kann es auch dazu kommen, dass ein Fahrzeug nicht in einen fahrtbereiten Zustand versetzt werden kann (z.B. durch Ausfall technischer Komponenten) und somit die Fahrt (vorerst) nicht möglich ist.

Ist die Fahrbereitschaft hergestellt, so wird die Information über die Fahrtbereitschaft vom Triebfahrzeugführer (Tf) an den Fahrdienstleiter (Fdl) übergeben. Dieser prüft, ob bereits Abweichungen bekannt sind und sich daraus Maßnahmen für die Fahrt ergeben, oder ob die Fahrt wie geplant stattfinden kann („Fahrt vorbereiten“). Abweichungen können sein:

  • Infrastrukturelle Besonderheiten (z.B. Störungen an Weichen oder der Gleisfreimeldung)
  • Fahrzeugtechnische Besonderheiten (z.B. Störungen am ETCS-Fahrzeuggerät)
  • Beförderungsbedingungen (z.B. Lademaßüberschreitung)

Liegen Abweichungen vor, so werden entsprechende Maßnahmen für die weiteren Prozessschritte abgeleitet („Fahrt mit Besonderheiten vorbereiten“). Die dort abgeleiteten Maßnahmen (z.B. Störung der Gleisfreimeldeanlage –> Maßnahme: Fahren auf Sicht) setzen die Bedienenden in den darauffolgenden Prozessen des Detailprozesses um.

Im nächsten Schritt nimmt der Fdl die Absicherung der Fahrt vor („Fahrt absichern“), bevor er die Fahrterlaubnis erteilt („Fahrt zulassen“). Falls die Regelhandlungen nicht zum Erfolg führen oder andere Maßnahmen erforderlich sind, muss die Fahrt mit Besonderheiten abgesichert werden. Dabei bearbeitet der Fdl etwa Unregelmäßigkeiten an Weichen, Gleisabschnitten (wie z.B. eine Gleisfreimeldestörung an einem Gleisabschnitt im Schutzweg [1]) oder auch an einem Bahnübergang (z.B. Arbeiten am Bahnübergang).

Die gleiche Philosophie gilt für Einschränkungen bei Erteilen der Movement Authority (MA). Grundsätzlich sollen die Fahrten – wie oben auch ausgeführt – auf höchstmöglichem technischen Sicherheitsniveau in den Betriebsarten Full Supervision (FS)/Automatic Driving (AD) zugelassen und durchgeführt werden. Zusätzlich kann ausgewählt werden, ob die Fahrt auf Sicht durchgeführt werden muss (OS: Betriebsart On Sight) oder nicht. Sollte dies nicht möglich oder nicht zulässig sein, hat der Fdl die Möglichkeit, die Fahrt ohne MA zuzulassen. Dort besteht die Möglichkeit, auszuwählen, ob die Betriebsart der Fahrt automatisch aufgewertet werden darf (SR: Betriebsart Staff Responsible), nicht aufgewertet werden darf (SH: Betriebsart Shunting) oder mit gestörter Zugbeeinflussungsanlage durchgeführt werden muss (IS: Betriebsart Isolation).

Im weiteren Verlauf führt der Tf die Fahrt durch („Fahrt durchführen“), wobei grundsätzlich die Fahrt gemäß der Führungsgrößen in den Betriebsarten FS oder AD durchgeführt werden soll. Erfordern die vorherigen Prozesse andere Betriebsarten, so wählen die Anwendenden bei „Fahrt mit Besonderheiten durchführen“ zwischen folgenden Prozessen:

  • Fahrt in OS durchführen
  • Fahrt in SR durchführen
  • Fahrt in SH durchführen
  • Fahrt in IS durchführen

Eine Übersicht über alle relevanten ETCS-Betriebsarten enthält Tabelle 2.

Tabelle 2: Übersicht über die wichtigsten ETCS-Betriebsarten
Tabelle 2: Übersicht über die wichtigsten ETCS-Betriebsarten (Quelle: DB Netz AG)

Nach dem Durchführen der Fahrt (d h. wenn die Fahrt das Ende des Fahrtabschnittes erreicht hat oder diesen verlassen hat) bereitet der Fdl die Fahrt nach („Fahrt nachbereiten“). Sollte es an dieser Stelle zu Abweichungen oder Unregelmäßigkeiten kommen (z.B. die Gleisfreimeldeanlage geht nach der Fahrt nicht in Grundstellung), so bekommt der Fdl unter dem Prozessschritt „Fahrt hilfsweise nachbereiten“ Maßnahmen aufgezeigt, mithilfe derer der gewünschte Zustand der Leit- und Sicherungstechnik wiederhergestellt werden kann.

Ist die Fahrt nun am Fahrtziel angekommen, so schließt der Tf die Fahrt ab („Fahrt abschließen“). Trifft dies noch nicht zu, erfolgt ein erneuter Durchlauf „Fahrt in Fahrtabschnitt abwickeln“ (siehe grüne Umrandung in Abbildung 4).

Bestimmte Prozessschritte stehen nicht oder nicht unmittelbar in Zusammenhang mit einer Fahrt, können aber trotzdem Auswirkungen auf diese haben. Diese Prozessschritte finden sich oberhalb der fahrtbezogenen Prozesse im gelben Rahmen (s. Abbildung 4). Hintergrund dabei ist, dass alle Beteiligten stetig Informationen aus dem Bahnbetrieb aufnehmen und daraus dann ohne unmittelbaren Zusammenhang mit einzelnen Fahrten Maßnahmen ableiten (z.B. Nothaltaufträge im Falle einer Betriebsgefahr abgeben oder empfangen).

Auslöser für den Prozess „Betriebslage erfassen“ ist ein außergewöhnlicher Reiz. Damit sollen u.a. folgende Einflussgrößen auf die Prozesse erfasst werden:

  • Geräusche und Gerüche, die auf einen (unverzüglichen) Handlungsbedarf hindeuten
  • Eingehender Notruf mit oder ohne Nothaltauftrag
  • Anruf mit Informationen über Gefahren im Gleisbereich
  • Auftretende Störungen sowie Unregelmäßigkeiten am Bedienplatz (sowohl optische als auch akustische Anzeige)
  • Eingehende Aufträge, um Arbeiten zu koordinieren (z.B. Sperrung eines Gleises)

Abhängig von diesen Einflussgrößen prüfen die Anwendenden in „Betriebslage erfassen“, ob der Prozess auf Gefahren und/oder Störungen reagiert werden muss („Auf Gefahren reagieren“ und „Auf Störungen reagieren“) bzw. Arbeiten durchgeführt werden sollen („Arbeiten koordinieren“). Der Prozess „Arbeiten koordinieren“ ist aufgeteilt in zwei Unterprozesse:

  • „Arbeiten absichern“ Beispiele:
    • Arbeiten im Gleisbereich mit Einstellung des Bahnbetriebs –> Betriebliche Maßnahme: Gleissperrung
    • Arbeiten an Weichen –> Betriebliche Maßnahme: Sperrung von Weichen gegen das Umstellen
  • „Absicherung von Arbeiten aufheben“ Beispiele:
    • Aufhebung einer Gleissperrung nach Beendigung der Arbeiten
    • Entsperren von gegen Umstellen gesperrte Weichen nach Beendigung der Arbeiten

Ergänzend ist zu erwähnen, dass spätere Anwendende des Regelwerks – je nach weiteren Ergebnissen des Projektes – den Detailprozess in reduzierter und farblich aufbereiteter Darstellung sehen werden.

Aufbau von Regeln – Regeldarstellung

Nachdem nun die Struktur des Regelwerks erläutert wurde, folgt ein Einblick in den Arbeitsstand zur Gestaltung konkreter Regeln. Grundsätzlich liegt dabei hinter jedem Prozessschritt der Struktur genau eine Regel. Zur Veranschaulichung dient die Regeldarstellung des Prozesses „Fahrt absichern“ gemäß Abbildung 5. Auch hier ist anzumerken, dass es sich lediglich um einen Arbeitsstand bzw. Gestaltungsvorschlag handelt, der künftig noch weiter ausgearbeitet und abgestimmt wird.

Abbildung 5: Beispiel einer Regeldarstellung (Arbeitsstand)
Abbildung 5: Beispiel einer Regeldarstellung (Arbeitsstand) (Quelle: DB Netz AG)

Den Kern einer Regel bildet die prozessuale Darstellung (Abbildung 5, blauer Rahmen). Zur Anwendung kommt dabei eine Swimlane-Darstellung, die alle relevanten Akteure (Fdl, Tf, weitere) beinhaltet, um sowohl die Interaktion miteinander als auch die Interaktion mit technischen Komponenten (RBC, Stellwerk, Triebfahrzeug) zu veranschaulichen. Durch die Darstellung der Handlungsschritte aller am Prozess Beteiligten soll das Systemverständnis geschärft werden.

Neben der prozessualen Darstellung enthält eine Regel noch weitere neuartige Elemente: Zur Veranschaulichung der Prozessorientierung erfolgt am Anfang der Regel die Einordnung in den Gesamtkontext (Wo befinde ich mich im Prozess der Fahrt?). Unterstützt wird der Regelinhalt durch Visualisierungen des Anfangs- und Endzustandes. Möglich wären an dieser Stelle auch audiovisuelle Inhalte.

Hinsichtlich der Gestaltung kommen Icons zur Strukturierung und besseren Wiederauffindbarkeit zum Einsatz. Außerdem besteht die Idee, den Grad der Sicherheitsverantwortung des Bedieners durch farbliche Hinterlegung am linken Rand zu kennzeichnen:

  • Grün: Wahrnehmung der Sicherheitsverantwortung im Wesentlichen durch die Technik
  • Gelb: Wahrnehmung der Sicherheitsverantwortung durch den Bedienenden und die Technik (Beispiel: Fahrt in der Betriebsart OS)
  • Rot: Wahrnehmung der Sicherheitsverantwortung im Wesentlichen durch den Bedienenden, besondere Aufmerksamkeit erforderlich (Beispiel: Fahrt über eine Weiche ohne Endlage mit ersatzweiser Sicherung)

Eine weitere Differenzierung je nach Art der zu behandelnden Abweichung/Störung ist denkbar.

Bei der heutigen Fahrdienstvorschrift kommen hauptsächlich umfangreiche und unübersichtliche Fließtextdarstellungen zum Einsatz, worunter die Handhabbarkeit des Regelwerks oftmals leidet. Mithilfe der prozessualen Darstellung sowie der grafischen Aufbereitung sollen die Anwendenden in der neuen Fahrdienstvorschrift möglichst schnell und intuitiv zu den benötigten Informationen gelangen und komplexe Zusammenhänge verstehen. Die gezeigten Neuerungen bezüglich der Darstellung von Regeln stellen damit einen wesentlichen Baustein zur Steigerung der Anwenderfreundlichkeit dar.

Zur Verdeutlichung der erläuterten Zusammenhänge erfolgt im Weiteren eine Erläuterung von zwei Beispielszenarien.

Anwendungsbeispiele des Regelwerks

1. Fahrt mit voller technischer Unterstützung

Als erstes wird die Fahrt mit voller Verfügbarkeit sämtlicher Teilsysteme an einem Beispiel erläutert. Dazu findet eine Fahrt auf der fiktiven Infrastruktur zwischen den Betriebsstellen Regensburg und Heilsbronn statt (Abbildung 6).

Abbildung 6: Fahrt von Regensburg nach Heilsbronn
Abbildung 6: Fahrt von Regensburg nach Heilsbronn (Quelle: DB Netz AG)

Die Fahrt beginnt in Regensburg mit den Handlungen, die sich aus dem Teilprozess „Fahrtbereitschaft herstellen“ ergeben. Nach Abschluss erfolgt die Übergabe der Information über Ziel (Betriebsstelle Heilsbronn Gleis 1), Zweck (Überführung des Triebfahrzeugs) und Besonderheiten (keine vorhanden) über das Abschließen dieses Teilprozesses an den Fdl (in der Regel durch technische Systeme, aber auch mündliche Kommunikation möglich). Dieser wird nun für jeden der eingezeichneten Fahrtabschnitte bis zum Fahrtziel, den Teilprozess „Fahrt vorbereiten“ anwenden. Danach erfolgt das (automatisierte) Absichern der Fahrt mittels Einstellens einer Fahrstraße sowie das Zulassen der Fahrt für den jeweiligen Fahrtabschnitt mittels MA in der Betriebsart FS für den jeweiligen Fahrtabschnitt bis zum Fahrtziel. Damit kann der Tf die Fahrt mittels der Regel im Teilprozess „Fahrt durchführen“ abwickeln. Nach Durchfahren des jeweiligen Fahrtabschnittes (außer Fahrtabschnitt 5, dort ist das Ankommen am Fahrtziel relevant) wird die Fahrt durch den Fdl für den jeweiligen Fahrtabschnitt nachbereitet. Am Fahrtziel angekommen, schließt der Tf die Fahrt ab.

2. Einfahrt in einen besetzten Gleisabschnitt

Ein weiteres Beispiel stellt die Einfahrt in den besetzten Gleisabschnitt dar. Ausgangspunkt ist grundsätzlich die gleiche Fahrt, wie im vorherigen Beispiel. Einziger Unterschied ist, dass die Fahrt in das besetzte Gleis 2 im letzten Fahrtabschnitt in der Betriebsstelle Heilsbronn einfahren soll. Für die Fahrtabschnitte 1 bis 4 gilt die gleiche Vorgehensweise, wie vorher beschrieben. Für den letzten Fahrtabschnitt 5 stellt der Fdl im Prozessschritt „Fahrt vorbereiten“ anhand der Bedienoberfläche des Bedienplatzes fest, dass eine „infrastrukturelle Besonderheit“ vorliegt und demensprechend die Fahrt mit Besonderheiten vorbereitet werden muss. Als Ergebnis leitet der Fdl das Erfordernis zum Fahren auf Sicht innerhalb des besetzten Fahrtabschnittes ab. Im Weiteren erfolgt das Absichern des Fahrtabschnittes mittels einer Fahrstraße bis zur maximal möglichen technischen Sicherheit (heute Fahrstraßenfestlegeüberwachungsmelder nach durchgeführter Fahrstraßenprüfung und Bedienung der Hilfsumgehung am entsprechenden Gleiselement in Ruhelicht). Die abgeleitete Maßnahme „Fahren auf Sicht“ kommt dann im Schritt „Fahrt zulassen“ zum Einsatz, da sie durch die heutige Bedienung des Vorsichtsignals umgesetzt wird. Das RBC übermittelt anschließend eine MA in der Betriebsart OS an das Triebfahrzeug, woraufhin der Tf dann die Fahrt auf Sicht in das entsprechende Zielgleis durchführt. Abbildung 7 zeigt den Ablauf der Fahrt.

Abbildung 7: Einfahrt in besetzten Gleisabschnitt
Abbildung 7: Einfahrt in besetzten Gleisabschnitt (Quelle: DB Netz AG)

An dieser Stelle wird dann auch ersichtlich, warum der Begriff „Abweichungen vom Regelbetrieb“ nicht mehr zutreffend ist. Die Einfahrt in einen besetzten Gleisabschnitt soll in Zukunft einen wiederkehrenden, planmäßigen Fall darstellen. In diesem Kontext wird die Verfügbarkeit der technischen Ausrüstung so weit ausgenutzt, dass die maximale Sicherheit und Effizienz bei der Abwicklung der Fahrten erreicht werden kann. Die teilweise nicht vorhandene Möglichkeit, die Gleisfreimeldeanlage zu nutzen (eingeschränkte Verfügbarkeit des besetzten Gleisabschnittes), wird durch das Fahren auf Sicht kompensiert.

Ausblick

Nachdem in der Vergangenheit vor allem die Regelwerksstruktur sowie in den Prozessen die Seite der Infrastruktur im Mittelpunkt stand, wird in der Zukunft das Hauptaugenmerk auf der Integration der Regeln der EVU inkl. der Schnittstellenregeln sein. Außerdem rückt das Thema Aus- und Fortbildung der Betriebspersonale in den Fokus des Projektes.

Weiterhin erfolgt die Entwicklung einer eigenständigen IT-Anwendung, in der das Regelwerk für die Anwendenden dargestellt wird. Geplant sind neben der Einbindung von Bildern auch intelligente Such- und Filterfunktionen. Darüber hinaus streben wir die Integration von örtlichen Zusätzen wie auch aktuellen Weisungen an, sodass sich die anzuwendenden Regeln zentral an einem Ort befinden.

Ein weiteres Ziel ist es, dass die IT-Anwendung auch für EVU nutzbar ist, sodass alle Funktionsgruppen im Bahnbetrieb eine einheitliche Plattform für die neue Fahrdienstvorschrift nutzen können.

Zusammen mit den inhaltlichen und prozessualen Vereinfachungen – insbesondere für den Abweichungs- und Störungsbetrieb – entsteht ein nutzerfreundliches Regelwerk, mit dem die Anwender*innen gerne arbeiten werden.

Anmerkung
[1] Der Begriff Schutzweg wurde aus der österreichischen Fahrdienstvorschrift übernommen. Ziel dabei ist, die beiden Begriffe Durchrutschweg und Gefahrpunktabstand unter einem neuen Begriff zu vereinen, da das Schutzziel bzw. die Schutzfunktion bei beiden Begriffen identisch ist.


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