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EBL-Fachkongress der VDV-Akademie

Koordinierende Stelle soll ETCS ins Rollen bringen

Auf dem Podium diskutierten (von links): Carsten Hein, Hans Peter Lang, Volker Hentschel, Ludolf Kerkeling und Michael Hecht
Auf dem Podium diskutierten (von links): Carsten Hein, Hans Peter Lang, Volker Hentschel, Ludolf Kerkeling und Michael Hecht (Foto: VDV-Akademie)

Auf dem 13. Eisenbahnbetriebsleiter-Kongress der VDV-Akademie in Erfurt diskutierten die Teilnehmenden über die Herausforderungen, vor denen die Bahnbranche bei der großflächigen ETCS-Einführung ins deutsche Schienennetz steht. Darüber hinaus bot der Kongress neben sicherheitsrelevanten Themen aus Betrieb und Technik auch Einblicke in die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen für die Eisenbahnen.

175 Expert*innen für die Sicherheit und den Betrieb der Eisenbahnen waren Ende Juni in die thüringische Landeshauptstadt gekommen, um sich über die neuesten relevanten Entwicklungen im System Bahn zu informieren. Die Akademie des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) hatte zu dem zweitägigen Fachkongress eingeladen, der von Dr. Carsten Hein (EBL, Bentheimer Eisenbahn) und Marcus Gersinske (Fachbereichsleiter, VDV) moderiert wurde.

ETCS-Einführung im Fokus

Im Mittelpunkt des Programms stand die geplante flächendeckende Einführung des Zugbeeinflussungssystems European Train Control System (ETCS) ins deutsche Schienennetz. Aus dem „über Jahrzehnte unterinvestierten, momentan bis zu 25 Prozent über-lasteten Netz“ (O-Ton DB InfraGO-Chef Dr. Philipp Nagl) soll nach Abschluss der derzeitigen Generalsanierung bis zum Jahr 2030 ein wesentlich erweitertes Hochgeschwindigkeitsnetz mit erhöhter Kapazität entstehen.

Welche Herausforderungen bei der Umsetzung dieses ambitionierten Plans zu bewältigen sind, darum ging es es in der Podiumsdiskussion des ersten Kongresstages. Götz Walther, VDV-Fachbereichsleiter für Eisenbahnbetrieb, führte mit einem Impulsvortrag in das Thema ein: Ein grundsätzliches Problem bei der ETCS-Implementierung sei, dass Kosten und Nutzen an unterschiedlichen Stellen des Bahnsystems anfielen – und die Branche nicht mehr von wenigen Monopolunternehmen geprägt sei, sondern inzwischen von vielen unterschiedlichen „Playern“. Deshalb sei das Projekt nur mit einer gemeinsamen Anstrengung zu bewerkstelligen, sagte Walther.

Mit Michael Hecht, Geschäftsführer bei der Erfurter Bahn, und Ludolf Kerkeling, Vorstand bei der Havelländischen Eisenbahn (HVLE), griffen zwei der Diskussionsteilnehmer auf dem Podium diese Bemerkung sogleich auf: So verwies Hecht auf die wirtschaftlichen Belastungen, unter denen die Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) bei der ETCS-Einführung stehen. Und Kerkeling forderte einen verbindlichen Zeit- und Finanzierungsrahmen für die Umrüstungen. Unter dem Strich passten die Szenarien überhaupt noch nicht zusammen: „Wir sind gezwungen, zu inves-tieren, mit der Aussicht, dass unsere Produkte teurer und unsere Kunden weniger werden“, kritisierte der HVLE-Vorstand.

Dr. Volker Hentschel, Leiter des DB-Konzernprogramms Digitale Schiene Deutschland, räumte ein, dass die DB sich zu lange nicht ernsthaft mit dem System ETCS beschäftigt habe. Das sei nun aber anders, obwohl im Detail immer noch vieles zu klären sei: „Wir müssen ein Momentum erzeugen. Dann wird sich der Plan auch konkretisieren“, sagte Henschel.

Hans Peter Lang plädierte ebenfalls für eine enge Zusammenarbeit der gesamten Branche: Seit der Bahnreform sei das deutsche System Bahn mit seinen über 1.000 Fahrzeugtypen „das komplexeste der Welt“. Deshalb brauche es für dieses Projekt eine koordinierende Stelle, wohlgemerkt nicht als DB-, sondern als Branchenlösung, betonte Lang – und kündigte an, dass er selbst es sein werde, der diese koordinierende Stelle initiieren und leiten werde.

Neue Aufgabe für Lang

Hintergrund: Hans Peter Lang schied vor kurzem aus der Geschäftsführung von DB Systemtechnik aus, da er die berufliche Altersgrenze erreicht hat. Somit ist er frei, diese Aufgabe zu übernehmen. „Es muss eine koordinierende Stelle geben, die vom gesamten Eisenbahnsektor mitgetragen wird. Das voranzutreiben, ist meine Aufgabe“, ließ sich Lang dazu neulich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zitieren.

Mit der Änderung des Schienenwegeausbaugesetzes, mit der der Bund seine grundsätzliche Zustimmung zur Förderung der ETCS-Umrüstungen für die Schienenfahrzeuge der EVU gab, sind die Voraussetzungen für eine solche Stelle geschaffen worden. Dietmar Litterscheid, VDV-Fachbereichsleiter für Eisenbahnbetrieb, gab in diesem Zusammenhang einen Überblick zum Sachstand zur Finanzierung der ETCS-Umrüstung durch den Bund.

Lothar Neuhoff, Ministerialdirigent im Bundesverkehrsministerium, hatte auf der ersten Keynote auf dem Kongress bereits deutlich gemacht, dass es „aus Neutralitätsgründen“ nicht der Bund sein könne, der die erforderliche Koordinationsstelle steuere – in diesem Licht erscheint die Initiative Hans Peter Langs, eine koordinierende Stelle mit paritätischer Besetzung aller relevanten Marktteilnehmer ins Leben zu rufen, sinnvoll und notwendig.

Recht und Cannabis

Auch Markus Ring, VDV-Fachbereichsleiter für Eisenbahnrecht, ging in seinem zweiteiligen Vortrag auf das neue Schienenwegeausbaugesetz ein, das neben den ETCS-Umrüstungen von Schienenfahrzeugen zum Beispiel auch die Förderung der Sanierungen von Bahnhofsgebäuden ermöglicht, da diese nun auch rechtlich als Teil der Schieneninfrastruktur gelten.

Ring gab unter anderem auch eine Einschätzung zu einem derzeit viel diskutierten Thema in der Bahnbranche ab: dem Gesetz zum Umgang mit Konsumcannabis (KVCanG).

Das Gesetz sehe für die Eisenbahnen, die für die Dienstfähigkeit ihrer Mitarbeiter selbst verantwortlich seien, keine gesonderte Regelung vor. Da Cannabis im Vergleich zu Alkohol und im Mischkonsum „wesentlich länger“ nachwirke, könne die Empfehlung an die Bahnunternehmen nur lauten, Mitarbeitern in sicherheitsrelevanten Tätigkeiten „den Konsum auch in der Freizeit“ nicht zu erlauben, sagte Ring.

Sicherheit und Sicherheitskultur

Auf sicherheitsrelevante Aspekte zielten auch die Vorträge von Boris Westhoff und Marc Baumgartner. So illustrierte Westhoff, Leiter der Untersuchungseinheit bei der Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung (BEU), anhand eines Unfallberichts zu einer Zug-Kollision mit Todesfolge die zentrale Bedeutung von klaren Definitionen und Handlungsvorgaben an den Schnittstellen von automatischen und manuellen Prozessen im System Bahn.

In diesem Fall, der sich auf der Strecke zwischen Altheim (Hessen) und Dieburg ereignete und auf der BEU-Website dokumentiert ist, schenkte der Fahrdienstleister dem System mehr Glauben als dem Triebfahrzeugführer, was in Verbindung mit technischen Fehlern zu dem verhängnisvollen Ereignis führte.

Baumgartner, Sicherheitsexperte von der „International Federation of Air Traffic Controllers’ Associations“ gab den Teilnehmenden Einblicke in die Sicherheitskultur der Luftfahrt. So berichtete der Schweizer von der Einführung der „Redlichkeitskultur“, einer Kultur, „in der operative Mitarbeitende für ihre Handlungen, Unterlassungen, Entscheidungen, die ihrer Ausbildung entsprechen, nicht bestraft werden“.

Hintergrund ist das Bemühen, nach sicherheitskritischen Vorfällen valide Aussagen der Beteiligten zu erhalten, um das Flugsicherungssystem weiter verbessern zu können, ohne dass für diese strafrechtliche Konsequenzen zu befürchten sind. Auf Nachfrage sagte Baumgartner, dass es seine Zeit dauere, bis eine solche Redlichkeitskultur etabliere. Unabdingbare Voraussetzung dafür sei aber eine entsprechende gesetzliche Regelung.

Weitere Vorträge hörten die Teilnehmenden unter anderem zu folgenden Themen:

  • Erfahrungsbericht zur Einführung von Akku-Schienenfahrzeugen bei Erixx Holstein
  • Digitaler Zwilling von IZBTM zur Verbesserung der Wirksamkeit der Ausbildung von Triebfahrzeugführern für National Express
  • Kunststoffschwellen im Praxiseinsatz bei der Hamburger Hochbahn
  • GSM-R-Zugfunk für Nebenbahnen (Kontron-Lösung für die Westfälische Landes-Eisenbahn)
  • Magnettechnologie-Elemente der Firma Nevomo für das System Bahn
  • Gesundheitsmanagement-Konzept von Railconcept für Triebfahrzeugführer
  • EU-Klimaneutralität bis zum Jahr 2050 – Auswirkungen auf Deutschland (Bericht des VDV-Europabüros)

Im Zusammenhang mit dem übergeordneten Kongress-Thema ETCS stand außerdem der Vortrag Christopher Winks vom Verkehrswissenschaftlichen Institut der RWTH Aachen, der den Nachweis zu erbringen suchte, dass ETCS auch auf Nebenstrecken realisierbar ist.

Mit ETCS Level 1 FS (Full Supervision) gebe es eine Möglichkeit, ETCS auch auf Nebenstrecken zu ermöglichen, die deutlich weniger komplex und kostengünstiger sei als Level 2 ohne Signale. Bei Level 1 erfolge die Informationssteuerung zum Beispiel ausschließlich über Balisen, das System sei bis zu einer Geschwindigkeit bis 160 km/h einsetzbar und ermögliche ein uneingeschränktes Rangieren. Damit sei ETCS auch für Nebenbahnen das System der Zukunft, argumentierte Wink.

Fazit

Unter dem Strich bot das Team der VDV-Akademie um Vanessa Balck auf dem EBL-Kongress in Erfurt ein fachlich fundiertes und abwechslungsreiches Programm, das mit einer flankierenden Ausstellung und einem gelungenen Netzwerkabend in der Erfurter Altstadt veredelt wurde. Die Besuchenden danken es mit ihrer Rekordbeteiligung und engagierter Teilnahme.


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