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Kolumne „Mein Blick auf die Dinge“

Gehen wir davon aus, der andere könnte recht haben

Quelle: PantherMedia/marish
Quelle: PantherMedia/marish

Ich möchte mit diesem Beitrag eine Lanze für eine andere Diskussionskultur und für die gute, alte Debatte brechen. Warum? Weil ich davon überzeugt bin, dass damit viele Probleme, die auf einem Unverständnis beruhen, erst gar nicht entstehen. Weil damit Meinungen, auf denen unsere Entscheidungen basieren, eine fundiertere Grundlage haben, weil Potenziale erkannt werden, die sonst im Verborgenen bleiben und nicht zuletzt für ein besseres Miteinander.

Wie oft ist es Ihnen schon passiert, dass Sie mit einem Menschen ins Gespräch gekommen sind und aus tiefster Überzeugung einen Standpunkt, Ihren Standpunkt, bis zum Schluss vertreten und verteidigt haben?

Wie oft haben Sie etwas zu einem Thema gehört, gelesen oder gesehen und waren sofort der gleichen oder der gegenteiligen Meinung, weil es der Ihren entsprach?

Und wie oft erleben Sie in Meetings den Austausch von Meinungen, aber kein aktives, neugieriges Zuhören mehr?

Stellen Sie sich eine Ihnen vielleicht nicht ganz unbekannte Situation vor. Ein Gespräch mit Ihrer Chefin, mit Kollegen oder Ihrem Partner/Ihrer Partnerin steht an. Es geht um ein Sie bewegendes, emotionalisierendes Thema und Sie haben alle Argumente auf Ihrer Seite, bereit loszulegen. Sie suchen den richtigen Moment für Ihre Argumentation. Vielleicht sofort damit loslegen, vielleicht das erste Luftholen des Gegenübers zur Unterbrechung nutzen? Wie oft ist der Ausgang dieser Art von Gesprächen geprägt von Sätzen wie: „Sie hat mich nicht verstanden“ oder „Es war verlorene Zeit“.

Eine andere Situation: Ein Meeting, alle Teilnehmenden „munitioniert“ mit ihrer Meinung als Beitrag zum Thema. Man sitzt in den Startlöchern, geht im Kopf nochmal seine Sätze durch und wartet auf den Moment. Was hat doch gerade der Kollege neben mir gesagt, was war nochmal die Meinung der Expertin? Egal, gleich bin ich dran.

Wie viel Potenzial für eine breitere Meinungsbildung und damit bessere Entscheidungen lassen wir so liegen? Gibt es Rezepte dagegen und für eine bessere Diskussionskultur? Ja, es gibt sie.

Ich wünsche mir echte Debatten zurück

Wie wäre es denn zum Beispiel, wenn wir uns an dem Gedanken des Philosophen Hans-Georg Gadamer orientieren, der da sagte: „Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte“. Ja, nur ein Konjunktiv. Ein Konjunktiv aber, der den Raum öffnet, Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten, seine eigene Meinung zu hinterfragen und gegebenenfalls zu revidieren.

Der Gedanke findet aber nur seinen Raum, wenn wir wirklich, wirklich zuhören. In dem Gesprächsmoment nicht den eigenen Gedanken nachhängen oder uns ablenken lassen.

Echtes Interesse zeigen, besser noch Neugier. Wenn wir nicht sofort dem uns scheinbar angeborenen Reflex einer Wertung folgen, stattdessen lieber Verständnisfragen stellen.

Und was ist jetzt mit der Debatte? Ich wünsche mir im Beruf und in unserer Gesellschaft die gute, alte Debatte zurück. Ein Streitgespräch nach klaren Regeln. Ein Thema oder eine These werden im Pro und Contra aus professioneller Sicht und aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Es bedarf dabei einer stringenten Argumentation und plausibler Gründe der Debattierenden. Ich als „nur“ Zuhörer habe dann die Chance, mir meine eigene Meinung zu bilden.

Joseph Joubert beschreib es so: „Zweck der Debatte soll nicht der Sieg, sondern ein Gewinn sein.“

Stellen Sie sich mal kurz Ihr nächstes Meeting mit einer Debatte zur Entscheidungsfindung nach diesem Muster vor. Glauben Sie mir, es lohnt sich, es einfach mal auszuprobieren.

Kontakt
sven.hantel@deutschebahn.com


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