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Europäisches Zugbeeinflussungssystem

ETCS – Status Quo und Ausblick aus europäischer Sicht

Foto: DB AG/Dominic Dupont
Foto: DB AG/Dominic Dupont

Es ist allgemein bekannt, dass das Europäische Zugbeeinflussungssystem (ETCS) einen schwierigen Start hatte. Es wurde Anfang der 1990er Jahre in Europa konzipiert, aber nicht in dem Maße eingeführt, wie man es sich erhofft hatte. Auch das Versprechen der vollständigen Interoperabilität wurde bis jetzt nicht eingelöst, da man vom Weg der vollständigen Kompatibilität der Spezifikationen abwich und plötzlich und paradoxerweise mit „verschiedenen Versionen“ von ETCS dastand. Diese Zeiten sind jedoch vorbei.

Dank stabiler und rückwärtskompatibler Spezifikationen, eines Einführungsplans mit integrierter, EU-weiter Koordinierung unter der Aufsicht des Europäischen Koordinators für ERTMS, einer Verknüpfung mit der überarbeiteten Verordnung über das transeuropäische Verkehrsnetz (TEN-V) und ehrgeizigen nationalen Einführungsplänen gibt es Grund zu vorsichtigem Optimismus. Dieser Artikel befasst sich mit dem Stand der ETCS-Einführung, der Reife der Spezifikationen und den Zukunftsaussichten aus europäischer Sicht.

ERTMS-Einführung

Die Einführung von ERTMS (European Rail Traffic Management System, bestehend aus ETCS und dem Funksystem GSM-R) ist für die Modernisierung der europäischen Eisenbahninfrastruktur von entscheidender Bedeutung und wird sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene umfassend koordiniert. Im Mittelpunkt dieser Bemühungen steht der europäische ERTMS-Koordinator, Matthias Ruete, dessen Aufgabe darin besteht, die verschiedenen Strategien und Zeitpläne der einzelnen Mitgliedstaaten mit dem übergeordneten europäischen Plan in Einklang zu bringen.

Strategische Meilensteine

Die überarbeitete Verordnung über das transeuropäische Verkehrsnetz (TEN-V), die im Juni 2024 endgültig verabschiedet wurde, hat spezifische Meilensteine für die umfassende Einführung von ERTMS in ganz Europa festgelegt. Bis 2030 soll das TEN-V-Kernnetz gemäß den bestehenden Standards fertiggestellt werden. Dazu gehört die Elektrifizierung des gesamten Schienennetzes und die Möglichkeit, 740 Meter lange Züge zu betreiben. Diese erste Phase konzentriert sich auf die Modernisierung der Infrastruktur, um diese Standards zu erfüllen und eine solide Grundlage für weitere Verbesserungen zu schaffen.

Bis 2040 soll die ERTMS-Einführung auf dem erweiterten Kernnetz abgeschlossen sein, wobei neue Standards wie eine Mindestgeschwindigkeit von 160 km/h für den Schienenpersonenverkehr eingehalten werden sollen. Dieses Etappenziel legt auch den Schwerpunkt auf Initiativen für einen umweltfreundlichen Verkehr und eine verstärkte Digitalisierung, mit dem Ziel, ERTMS auf dem gesamten TEN-V-Netz einzuführen und die nationalen Systeme schrittweise abzuschaffen. Das Hinzufügen des Meilensteins 2040 ist ein strategischer Schritt, um die Fertigstellung des Netzes zu beschleunigen und mit den Klimazielen der EU für 2050 in Einklang zu bringen.

Der letzte Meilenstein, der für 2050 angesetzt ist, zielt auf die Fertigstellung des gesamten transeuropäischen Verkehrsnetzes ab, das alle Abschnitte des Gesamtnetzes umfasst. Dieses langfristige Ziel sieht ein vollständig integriertes, effizientes und interoperables Eisenbahnsystem in ganz Europa vor, mit ERTMS als Rückgrat.

Fortschritte und Herausforderungen in den einzelnen Mitgliedstaaten

In mehreren Mitgliedstaaten wurden bei der ERTMS-Einführung erhebliche Fortschritte erzielt, wenngleich das Tempo und die Vorgehensweise sehr unterschiedlich sind.

Luxemburg nimmt eine Vorreiterrolle ein und hat die ERTMS-Einführung in seinem gesamten Netz abgeschlossen. Belgien hat ebenfalls beachtliche Fortschritte gemacht, über 65 Prozent seines Netzes ausgerüstet und strebt die vollständige Einführung bis Ende 2025 an. Italien nutzt Finanzmittel aus dem EU-Fonds für Konjunkturbelebung und Krisenbewältigung, um die ERTMS-Einführung voranzutreiben, und beweist damit ein starkes Engagement für die Modernisierung seiner Schieneninfrastruktur.

Mit ETCS ausgerüstete Streckenlänge – Länge in km pro ETCS Level (EU-27 + CH, Stand Ende 2023)
Mit ETCS ausgerüstete Streckenlänge – Länge in km pro ETCS Level (EU-27 + CH, Stand Ende 2023) (Quelle: RINF)

Im Gegensatz dazu stehen größere Transitländer wie Frankreich und Deutschland bei der Einführung von ERTMS vor komplexeren Herausforderungen. Deutschlands Vorzeigeprojekte, wie der Korridor Stuttgart–Ulm, stimmen jedoch optimistisch, dass die Meilensteine des TEN-V-Netzes trotz der derzeitigen Haushaltszwänge erreicht werden. Die unterschiedlichen Fortschritte verdeutlichen die verschiedenen Motivationen und Hindernisse in den einzelnen Mitgliedstaaten. So wird die ERTMS-Einführung in Dänemark durch die Überalterung des derzeitigen Signalsystems vorangetrieben, während Belgien sich auf die Verbesserung der Sicherheit konzentriert. Italien hingegen legt den Schwerpunkt auf die Erhöhung der Kapazität und die weitere Digitalisierung.

Einführung von ERTMS auf dem Kernnetz (Stand Ende 2023)
Einführung von ERTMS auf dem Kernnetz (Stand Ende 2023) (Quelle: ERTMS Deployment Management Team / TENtec Information System (Directorate-General for Mobility and Transport)

Der Einführungsprozess ist nicht ohne Hürden. Finanzielle Engpässe und ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften stellen eine große Herausforderung dar. Darüber hinaus erfordert die Aufrüstung von Standardinfrastrukturen wie Stellwerken erhebliche zeitliche und finanzielle Ressourcen. Kompatibilitätstests für neue Systeme erschweren die Einführung zusätzlich und führen häufig zu Verzögerungen.

Trotz dieser Herausforderungen haben die überarbeitete TEN-V-Verordnung und die Einrichtung des „ERTMS-Forums“ die Koordinierung auf EU-Ebene verbessert. Der ERTMS-Koordinator, der von diesem Forum unterstützt wird, wird die nationalen Umsetzungspläne in einen kohärenten europäischen Gesamtplan integrieren und so einen realistischen und transparenten Ansatz für die ERTMS-Einführung bieten.

Reifegrad der Spezifikationen

ERTMS hat einen Reifegrad erreicht, bei dem seine Spezifikationen gut etabliert und stabil sind. Die Technischen Spezifikationen für die Interoperabilität der Zugsteuerung, Zugsicherung und Signalgebung (TSI ZZS) wurden 2023 grundlegend überarbeitet, um neue Funktionen zu integrieren und künftige technologische Integrationen vorzubereiten.

TSI CCS Revision 2023

Mit der Überarbeitung der TSI ZZS 2023 wurden mehrere wichtige Aktualisierungen eingeführt, darunter Funktionen für den automatischen Zugbetrieb (ATO) und Vorbereitungen für das künftige mobile Eisenbahnkommunikationssystem (FRMCS). Diese Aktualisierungen sollen die Fähigkeiten des Systems verbessern und sicherstellen, dass es für künftige technologische Fortschritte gerüstet ist. Wichtig ist, dass alle in der Version 2016 festgestellten Fehler behoben wurden, so dass eine robuste und zuverlässige Grundlage für ERTMS geschaffen wurde.

ERA, die Eisenbahnagentur der Europäischen Union, spielt als ERTMS-Systembehörde weiterhin eine zentrale Rolle bei der Pflege und Aktualisierung der ETCS-Spezifikationen. Derzeit befasst sich die ERA mit kleineren Problemen in der Version 2023 der TSI CCS und bereitet sich auf die nächste größere Überarbeitung vor, die für 2027 geplant ist. Die Stabilität der Spezifikationen in den letzten Jahren hat die Rückwärtskompatibilität gewährleistet und die nahtlose Integration neuer Funktionen in das bestehende System erleichtert.

FRMCS und zukünftige Überprüfungen

Eine der wichtigsten kommenden Entwicklungen für ETCS ist die Integration des Future Railway Mobile Communication System (FRMCS). FRMCS, welches im Wesentlichen durch die Obsoleszenz von GSM-R ins Leben gerufen wurde, stellt die nächste Generation der mobilen Kommunikation für Eisenbahnen dar. Die ERA prüft derzeit die zweite Welle von FRMCS-Spezifikationen, die die Grundlage für umfangreiche Tests in den Jahren 2025 und 2026 bilden werden. Die Ergebnisse dieser Tests werden in die TSI-Revision ab 2027 einfließen und den Weg für die Marktreife der FRMCS-Funkkomponente ebnen.

Die Integration neuer Funktionen in das ETCS, wie FRMCS, erfolgt nach einem strukturierten und strengen Verfahren. In der Regel dauert es mindestens fünf Jahre, bis neue Funktionen in die Spezifikationen aufgenommen werden, so dass eine gründliche Prüfung und Validierung gewährleistet ist. Dieser Ansatz unterstreicht die Bedeutung von Stabilität und Zuverlässigkeit bei der Weiterentwicklung des ETCS.

Die Rolle der ERA

Als Systembehörde für ERTMS fungiert die ERA als Vermittler zwischen den verschiedenen Interessengruppen, darunter Eisenbahnunternehmen, Infrastrukturbetreiber, Funktechnik- und Signaltechnikanbieter. Diese Rolle ist von entscheidender Bedeutung für den Ausgleich der unterschiedlichen Interessen und Anforderungen der beteiligten Parteien und stellt sicher, dass die Entwicklung und Einführung neuer Funktionalitäten reibungslos verlaufen.

Langfristiges Ziel ist ein vollständig integriertes, effizientes und interoperables Eisenbahnsystem in ganz Europa“

Ausblick in die Zukunft

Die Zukunft des ERTMS ist gekennzeichnet durch ständige Weiterentwicklungen und die Integration von Spitzentechnologien. Diese Entwicklungen versprechen, die Fähigkeiten des Systems zu verbessern und seine anhaltende Relevanz in einem zunehmend digitalen und automatisierten Eisenbahnumfeld zu gewährleisten. Das Gemeinschaftsunternehmen EU-Rail bietet einen strukturierten Rahmen für diesen Innovationsprozess und fördert einen integrierten, transparenten und effizienten Ansatz für die Weiterentwicklung des ETCS.

Automatischer Zugbetrieb (ATO) und Grad der Automatisierung (GoA)

Eine der spannendsten Perspektiven für ERTMS ist die Einführung höherer Automatisierungsgrade (GoA), insbesondere GoA 3 und 4. Diese Automatisierungsgrade werden einen vollautomatischen Zugbetrieb ermöglichen und die betriebliche Effizienz und Sicherheit erheblich verbessern. Die Integration von ATO-Funktionen in das ETCS ist ein entscheidender Schritt zur Verwirklichung dieser Vision, da sie die technische Grundlage für die fortgeschrittene Automatisierung bildet.

ATO GoA 3 umfasst den unbegleiteten Zugbetrieb, bei dem die Züge automatisch fahren, aber für Notfälle ein Zugbegleiter zur Verfügung steht. ATO GoA 4 steht für einen vollständig automatischen Zugbetrieb, bei dem kein Bordpersonal erforderlich ist. Der Übergang zu diesen höheren Automatisierungsgraden erfordert erhebliche technologische Fortschritte und strenge Tests, aber die potenziellen Vorteile in Bezug auf Effizienz, Kapazität und Sicherheit sind erheblich.

Integration der Satellitentechnik

Eine weitere vielversprechende Entwicklung für ERTMS ist die mögliche Integration der Satellitentechnologie in Zugkommunikations- und Ortungssysteme. Die satellitengestützte Kommunikation und Ortung bietet großes Potenzial, die Kosten für die streckenseitige Ausrüstung, die derzeit einen erheblichen Teil der Infrastrukturinvestitionen für Zugbeeinflussungssysteme ausmacht, erheblich zu senken. Durch die Nutzung der Satellitentechnologie können Bahnbetreiber zuverlässigere und kostengünstigere Kommunikationslösungen erzielen und so die Gesamteffizienz und -stabilität des Eisenbahnnetzes zu verbessern.

Die Satellitentechnologie kann auch die Abdeckung in abgelegenen und schwierigen Gebieten verbessern, in denen der Einsatz herkömmlicher Kommunikationsinfrastrukturen schwierig oder teuer sein kann. Diese Fähigkeit ist besonders wichtig für die Ausweitung des Schienenverkehrs auf unterversorgte Gebiete und trägt zu einem integrativeren und umfassenderen Verkehrsnetz bei.

Langfristige Vision

Die Zukunft des ERTMS zeichnet sich durch ein Spannungsfeld aus Stabilität und Innovation aus. Die Ausgereiftheit des Systems und die bewährten Spezifikationen bilden eine solide Grundlage für laufende Verbesserungen, während neue Technologien wie ATO und Satellitentechnologie die Möglichkeiten des Systems zu erweitern versprechen.

Die koordinierten Bemühungen auf EU-Ebene, die von der überarbeiteten TEN-V-Verordnung und dem ERTMS-Forum geleitet werden, gewährleisten einen transparenten und realistischen Ansatz für die Einführung und Weiterentwicklung des ERTMS.

Das Engagement des europäischen Eisenbahnsektors für ERTMS zeigt sich in den beträchtlichen Fortschritten, die trotz der Herausforderungen in verschiedenen Mitgliedstaaten erzielt wurden. Die Integration künftiger Innovationen, unterstützt durch einen soliden Rechtsrahmen und koordinierte Anstrengungen, unterstreicht das Engagement des Sektors, bis 2050 ein nachhaltiges, effizientes und interoperables Eisenbahnnetz in ganz Europa zu schaffen.


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