Bahnhöfe in ländlichen Gebieten sind nicht allein Mobilitätsdrehscheiben und Eingangstore zu Städten und Gemeinden. Ihre Empfangsgebäude können auch wichtige Treffpunkte für die Bürger*innen sein und als soziale Anker den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern. Die Allianz pro Schiene hat beim Wettbewerb „Bahnhof belebt!“ drei „Vorzeige-Bahnhöfe“ ausgezeichnet und Handlungsempfehlungen für die Entwicklung von Bahnhöfen in Klein- und Mittelzentren vorgelegt.
Auf ihrem Bahnhofskongress im März in Berlin hat die Allianz pro Schiene die Bahnhöfe in Viechtach (Bayern), Stollberg (Sachsen) und Rottenbach (Thüringen) als besonders „vorbildliche, belebende Orte“ und somit als positive Beispiele für Bahnhöfe in ländlichen Gebieten ausgezeichnet.
Das gemeinnützige Verkehrsbündnis hatte den Wettbewerb „Bahnhof belebt!“ in Kooperation mit der DB InfraGO AG und dem Deutschen Städte- und Gemeindebund ausgerufen und zunächst elf Bahnhöfe als Best-Practice-Beispiele ausgewählt.
Alle hätten das Potenzial zu zeigen, mit welchen Angeboten Bahnhöfe in ländlichen Räumen Standards für nachhaltige Mobilität und Daseinsvorsorge setzen könnten, begründete die Allianz ihre Vorauswahl. Eine unabhängige Jury zeichnete aus diesen elf Bahnhöfen mit Viechtach, Stollberg und Rottenbach im Anschluss drei besonders gelungene aus.
Neben den drei Preisträgern schafften es folgende Bahnhöfe in die engere Wahl:
- Augustfehn, Niedersachsen
- Erzingen, Baden-Württemberg
- Fürstenberg (Havel), Brandenburg
- Großräschen, Brandenburg
- Luckenwalde, Brandenburg
- Naila, Bayern
- Ortrand, Brandenburg
- Velten, Brandenburg
Verkehrswende im ländlichen Raum
„Orte ohne Bahnhöfe sind traurige Orte“ zitierte Dirk Flege in seinen Eröffnungsworten aus der „Gebrauchsanweisung fürs Zugfahren“ des Schriftstellers Jaroslav Rudiš. Leider gebe es auch traurige Bahnhöfe, verwies der Geschäftsführer der Allianz pro Schiene auf Bahnhöfe in ländlich geprägten Regionen, die sich in keinem guten Zustand befänden: „Das sind dann keine schönen Orte, das ist Tristesse, die sich zum Beispiel an Empfangsgebäuden mit verrammelten Fenstern und Graffiti an den Wänden zeigt.“
Das Projekt „Bahnhöfe als Drehscheibe nachhaltiger Mobilität und Vitalitätszentren im ländlichen Raum“ sei mit dem Ziel ins Leben gerufen worden, das zu ändern. Gefördert wurde es über zwei Jahre hinweg vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz sowie dem Umweltbundesamt und fand mit dem Kongress sowie der Preisverleihung zum Wettbewerb „Bahnhof belebt!“ seinen Abschluss. Der Anspruch sei gewesen, die Verkehrswende in ländlichen Gebieten zu unterstützen. Und dies sei in bemerkenswerter Weise gelungen, sagte Flege.
Denn von Tristesse kann bei den ausgezeichneten Bahnhöfen nicht die Rede sein – im Gegenteil: Sie zeigen laut der Allianz pro Schiene, was möglich ist und wie vielfältig die Revitalisierung alter Bahnhöfe sein kann – im Personenverkehr, in der lokalen Versorgung, in sozialen Fragen oder in der Pflege regionaler Kulturgüter.
Die zahlreichen Einsendungen zum Wettbewerb hätten gezeigt, wie kreativ die Nutzung von Bahnhofsgebäuden angegangen werden könne, sagte Projektleiterin Ulrike Hunscha. Diese Bahnhöfe seien allesamt Orte, an denen sich Menschen treffen und ins Gespräch kommen könnten und die gleichermaßen attraktiv und praktisch für Anwohner*innen und Tourist*innen seien. „Alle profitieren von lebendigen Bahnhöfen im ländlichen Raum; sie strahlen positiv in die ganze Umgebung aus“, so Hunscha.
Best-Practice-Beispiele
Die ausgezeichneten Bahnhöfe illustrieren das breite Spektrum von gelungenen Beispielen, die den Bürger*innen Mobilität und Daseinsvorsorge ermöglichen und alte Stationsgebäude in neuem Glanz erstrahlen lassen:
- So konnte sich in Viechtach der Bahnhof nach der Reaktivierung der Strecke nach Gotteszell zu einem von den Einwohnern hoch geschätzten Treffpunkt im Ort entwickeln: Die Länderbahn GmbH als Eigentümerin richtete dort eine Kundenzentrale ein; auch eine Musikschule und ein Café bezogen dauerhaft Quartier.
- In Stollberg sorgte die Stadtverwaltung dafür, dass auch dieser Bahnhof zum Treffpunkt des gesamten Ortes werden konnte: Das Gebäude beherbergt zahlreiche Vereine, dient als Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche, und auch hier sorgt ein Café für Aufenthaltsqualität und leibliches Wohl.
- In Rottenbach nahmen die Bürger*innen das Heft des Handels in die Hand, gründeten eine Genossenschaft und schufen in Zusammenarbeit mit der Stadt und den Regionalplanungs-Experten der Internationalen Bauausstellung (IBA) Thüringen ein Bürgerhaus für Veranstaltungen. Reisende können sich dort außerdem in einem Hofladen mit Proviant und Reiseutensilien versorgen.
Die Beispiele zeigten, dass es bei der Belebung von Bahnhöfen in ländlichen Räumen darauf ankomme, möglichst früh den Schulterschluss mit allen beteiligten Akteuren zu suchen. Bahnen, Bürger*innen und Kommunen sollten im Idealfall zusammenarbeiten, fasste Hunscha die Erfahrungen aus dem Projekt zusammen: Es sei wichtig, ein aktives Agenda-Setting zu betreiben und die Menschen vor Ort von Anfang an mitzunehmen. Alle Akteure sollten Mitspracherecht am Nutzungskonzept des jeweiligen Bahnhofes haben und sich gemeinsam um Förderungen bemühen. So könnten ländliche Bahnhöfe die gesellschaftliche Teilhabe verbessern und eine entscheidende Rolle als „Transmitter für das Kommunen-Enhancement“ spielen, sagte Hunscha.
Handlungsempfehlungen
Die Allianz pro Schiene hat auf der Basis der Erfahrungen aus ihrem Projekt Handlungsempfehlungen für eine erfolgreiche Entwicklung von Bahnhöfen in ländlichen Räumen herausgegeben. Demnach sollten Bahnhöfe unter anderem über barrierefreie Bahnsteige, Empfangsgebäude und Umgebungen verfügen. Aufenthaltsqualität und Mobilitätsvielfalt seien die Voraussetzung dafür, dass Bahnhöfe als Drehscheibe nachhaltiger Mobilität wahrgenommen werden.
Des Weiteren könnten Bahnhöfe als Versorgungs- und Kulturzentren dienen, die Informationsangebote für Reisende, Services, Medizin- und Bildungsangebote wie Bibliotheken für die Bürger*innen bereithielten. Außerdem seien sie auch als Begegnungsorte von hoher Bedeutung. Durch standortbezogene soziokulturelle Angebote könnten sie gerade für Gruppen, deren Bewegungsradius vor allem am Ort liegt (zum Beispiel Jugendliche oder Ältere), einen zentralen Anlauf- und Treffpunkt darstellen, der gesellschaftliche Teilhabe ermögliche.
Die Allianz pro Schiene gibt dazu folgende Handlungsempfehlungen:
- Agenda Setting und Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger vor Ort
- Geeignetes Nutzungskonzept entwickeln
- Bahnhöfe gezielt in die Verkehrs- und Raumordnungsplanung integrieren und den Zugang zum Öffentlichen Personennahverkehr unterstützen
- Fördermittel für Investitionen nutzen
- Bundesweit Vernetzungsstellen etablieren
Auf der Podiumsdiskussion des Kongresses waren sich Henrike Jenß (DB InfraGO), Manja Müller (Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg), Laura Schulte (Nahverkehr Rheinland) und Stephan Wilhelm (Planungsgesellschaft BahnStadt) einig, dass Bahnhofskonzepte so vielfältig seien wie die Regionen im ganzen Land und es keine Patentlösung für die erfolgreiche Entwicklung von Bahnhöfen gebe. Wichtig sei, so der Tenor, die langfristige und intensive Zusammenarbeit der beteiligten Akteure, um der komplexen „Entwicklungsaufgabe Bahnhof“ gewachsen zu sein.
Bahnhöfe und Demokratie
Die wichtige Rolle von Bahnhöfen in ländlichen Räumen für die Mobilitätswende und den gesellschaftlichen Zusammenhalt betonten die beiden Staatssekretär*innen Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) und Dr. Jan-Niclas Gesenhues (Bündnis 90/Die Grünen) in ihren Statements: So hob Schwarzelühr-Sutter, parlamentarische Staatssekretärin im Bundesinnenministerium, die Aufgabe hervor, die Bahnhöfe für die Herstellung „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ auf dem Land durch die Förderung von Mobilität, Wirtschaft, Teilhabe und Daseinsvorsorge spielten. Gesenhues, parlamentarischer Staatssekretär im Bundesumweltministerium, verwies in seiner Rede darauf, dass gerade in den ländlichen Gebieten Deutschlands „Gebäude und Verkehr“ noch nicht auf dem richtigen Weg seien, um eine umfassende Mobilitätswende zu erreichen.
Dass beide Staatssekretär*innen den Demokratie-Aspekt bei der Entwicklung von Bahnhöfen heraushoben, entging den Teilnehmenden am Bahnhofskongress dabei nicht und hatte offensichtlich auch einen Grund: Drei Monate später, im Juni, sollten sich Bundestag und Bundesrat im Vermittlungsausschusse auf eine Novelle des Bundesschienenausbaugesetzes verständigen, in der sich der Bund zur finanziellen Verantwortung für den Zustand der Bahnhofsgebäude bekennen sollte.
Ab sofort kommt also der Bund für „die Sanierung und Modernisierung von Empfangsgebäuden an den Bahnhöfen“ auf. Das war zuvor nicht der Fall, was dazu führte, dass die Deutsche Bahn in den vergangenen Jahren den Großteil ihrer Bahnhofsgebäude vor allem aus wirtschaftlichen Gründen verkaufte – ein strategischer Fehler, wie DB und Politik inzwischen eingeräumt haben.
Fazit und Ausblick
In seinen Schlussworten betonte Dirk Flege, dass es für die erfolgreiche Entwicklung von Bahnhöfen sowohl des Engagements von unten („bottom up“) als auch von oben („top down“) bedürfe. Was mit ersterem möglich sei, hätten der Bahnhofskongress und die Preisträger des Wettbewerbs gezeigt. Aber auch die Politik und die DB müssten helfen, „um in eine Aufstiegsbewegung zu kommen“.
Dass es inzwischen keine Stilllegungen regionaler Strecken mehr gebe und die DB keine weiteren Bahnhofsgebäude veräußere, sei als Fortschritt zu bewerten. Um in der Sache weiterzukommen, müsse die Funktion der Bahnhöfe in ländlichen Räumen für den Demokratie-Zusammenhalt aber noch stärker betont werden, sagte Flege.
Weitere Infos auf der Website der Allianz pro Schiene:
www.allianz-pro-schiene.de/bahnhof-belebt/
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Handlungsempfehlungen für die Entwicklung von Bahnhöfen in Klein- und Mittelzentren (PDF)
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