Auf dem 19. Kongress für Eisenbahnbetriebsleiter*innen (EBL) und Sicherheitsmanager*innen setzte DB Training, Learning & Consulting die Themen der Stunde auf die Agenda: die neue Infrastrukturgesellschaft InfraGO, die Weiterentwicklung der Sicherheitskultur und den digitalen Bahnbetrieb.
Knapp 200 Teilnehmende konnte DB Training, Learning & Consulting, der Qualifizierungs- und Beratungsdienstleister der Deutschen Bahn AG, im September in Nürnberg zu seinem EBL-Kongress begrüßen. Gastgeberin und – aufgrund des krankheitsbedingten Ausfalls von Thomas Hösterey – auch Moderatorin Sylke Schmidt begrüßte ihr Publikum zu der Veranstaltung, die sowohl in Präsenz als auch Online stattfand.
InfraGO: Lackmustest HGV
Professorin Dr.-Ing. Corinna Salander war es vorbehalten, den ersten Vortrag der Veranstaltung zu halten: Die Abteilungsleiterin Eisenbahn im Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) skizzierte die politischen Rahmenbedingungen, in die der Bund das System Bahn einbettet. Von besonderem Interesse ist dabei derzeit der Zusammenschluss der beiden Infrastrukturunternehmen DB Netz AG und DB Station&Service AG, die ab 1. Januar 2024 als DB-Tochter unter dem Namen „InfraGO“ firmieren werden.
InfraGO steht für Gemeinwohlorientierte Infrastrukturgesellschaft, was laut Salander bedeutet, dass die neue Gesellschaft keine reine Orientierung an betriebswirtschaftlichen Ergebnissen verfolgen, sondern auch gesellschaftlich-politische Ziele mit in den Blick nehmen wird. Dem Bund wird es demnach obliegen, die politischen Ziele für die Schiene zu formulieren und für den finanziellen Rahmen zu sorgen, während die InfraGO für die Umsetzung zuständig sein wird.
Wie genau und unter welchen Prämissen diese Arbeitsteilung vonstatten gehen soll, ist noch unklar. Der notwendige Ausbau der Hochgeschwindigkeitsstrecken und der Verkehrskorridore im Rahmen der Digitalen Schiene Deutschland (DSD) werde aber auf jeden Fall der Lackmustest der Zusammenarbeit zwischen Bund und InfraGO werden und zeigen, ob das neue Modell funktioniert, prognostizierte Salander.
Pilotprojekt Riedbahn
4.200 Kilometer Schiene, so ist der Plan, sollen bis zum Jahr 2030 saniert werden, um aus dem derzeit hoch belasteten Netz das neue Hochgeschwindigkeitsnetz der InfraGO entstehen zu lassen. Dafür sind unter anderem Totalsperrungen von Strecken in bisher nicht gekanntem Ausmaß notwendig. Wie es dennoch möglich sein soll, in diesen Phasen Strecken befahrbar zu halten, Aufträge auszuführen und Kunden zu beliefern, veranschaulichten Jörg Kiehn (Jörg Kiehn Bahnconsult) und Dirk Menne (DB Netz AG) in ihrem Vortrag „Kommerzielle Fahrten im Rahmen einer Betra“.
Vorgesehen ist demnach eine Lösung, die kommerzielle Fahrten und Fahrten zu Bauzwecken aus Sicherheitsgründen zeitlich trennt, aber grundsätzlich zulässt, während Durchfahrten und Personenverkehr auf diesen Strecken grundsätzlich ausgeschlossen sein werden. Der Pilot soll zwischen Juli und Dezember 2024 bei der Generalsanierung der Riedbahn zwischen Frankfurt am Main und Mannheim erfolgen.
Podiumsdiskussion zur Ril 408
Fester Bestandteil der geplanten Netzsanierung ist unter anderem die flächendeckende Einführung des Zugbeeinflussungssystems European Train Control System (ETCS) Level 2 ohne Hauptsignale. In diesem Zusammenhang ist es notwendig, die betrieblichen Prozesse neu zu denken. So soll die hoch komplexe und zum Teil schwer verständliche Fahrdienstvorschrift 408 entschlackt und digitalisiert werden. Gleichzeitig wird mit der Richtlinienfamilie 400 eine Fahrdienstvorschrift für den digitalen Betrieb entwickelt.
Unter der Fragestellung „Neue Regeln für den Betrieb? Was wird aus der „Bibel“ 408?“ moderierte Joachim Bullmann die Podiumsdiskussion, auf dem das Mitglied des Fachbeirats des EBL-Kongresses „den idealen Kreis“ an Experten auf der Bühne begrüßen konnte, um über dieses Thema zu diskutieren: Neben Bullmann saßen Dieter Zöll und Julian Huth (beide bei der DB Netz AG mit der Weiterentwicklung der Richtlinien zum Fahrbetrieb befasst) sowie mit Severin Dünnbier und Jörg Kiehn zwei außerhalb des Konzerns angesiedelte EBL auf der Bühne.
Bislang sei die DB bei allen technologischen Neuerungen nicht in der Lage gewesen, Alttechniken abzuschaffen, was zu einer überkomplexen 408 geführt habe. „Wir brauchen einen Weg nach vorne“, sagte Zöll. Huth, der während des Kongresses noch einen weiter in die Tiefe gehenden Vortrag zur Weiterentwicklung der 408 hielt, sah die entscheidende Frage in der parallelen Weiterentwicklung der beiden Rils 400 und 408: „Wir haben dann im Idealfall mit der 400 eine einheitliche Ril für die neue Technik und die 408 als ‚Class B-System‘, die sich langsam anpassen muss“, sagte Huth. Severin Dünnbier bestätigte aus Anwendersicht den dringenden Handlungsbedarf, die Regelwerke den veränderten technischen Bedingungen anzupassen, mahnte aber, dass „Sorgfalt vor Tempo“ stehen müsse.
Wie die DB die Änderungen bei der 408 umsetzen will, beschrieb Zöll folgendermaßen: Man werde versuchen, zunächst Regeln und Querverweise zu reduzieren sowie die Sprache zu vereinfachen. Die Diskussionen über die Inhalte, die in der 408 enthalten sein sollten, und welche Regelwerkskultur ihr zugrunde liegt, erfolgten dann im nächsten Schritt. Grundsätzlich müsse man gerade bei der neuen Ril 400, die für den digitalen Bahnbetrieb bzw. für ETCS-Strecken erstellt wird, umdenken, da in diesem Bereich stark mit Schutzzielen gearbeitet werde, unterstrich Zöll. Jörg Kiehn sprach sich bei dieser Frage dafür aus, wie wichtig es bei den anstehenden Änderungen sein wird, frühzeitig das Gespräch mit den Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) zu führen und den Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) mit seinen Fachgruppen einzubeziehen.
Sicherheitskultur
Wie die Bahnen zu einer „positiven Sicherheitskultur“ unter Berücksichtigung des menschlichen Faktors kommen können, darüber referierte Severin Dünnbier (Ingenieurbüro Severin Dünnbier). Der EBL erinnerte an einem Vortrag des Lufthansaflugsicherheitsexperten Manfred Müller beim EBL-Kongress 2018 in Wernigerode, in dem dieser die These vertrat, dass mehr Technik inzwischen nicht mehr Sicherheit bedeute, sondern es auf das Miteinander der Mitarbeitenden, die Art der Kommunikation und gegenseitiges Vertrauen ankomme. Dies sei der Grund dafür, dass man Sicherheitskultur und Menschlich-Organisatorische Faktoren (MOF) im Zusammenhang denken müsse, sagte Dünnbier.
Professor Dr. Christian Montag brachte in seinem Vortrag „Smartphones im Dienst: Segen oder Fluch? Was können wir gegen eine missbräuchliche Nutzung tun?“ den Teilnehmenden den wissenschaftlichen Blick aus das Phänomen Smartphone auf unterhaltsame Weise dar. Der Psychologe konnte anhand von Studienergebnissen belegen, dass allein die Anwesenheit eines Smartphones im Raum oder sogar das Wissens um eines, das nebenan liegt, bereits zur Ablenkung führen kann. Die Industrien des Datenkapitalismus arbeiteten mit der Angst der Nutzenden, etwas Wichtiges zu verpassen und designten ihre Geräte entsprechend. Gleichwohl hätten auch die Nutzer*innen Möglichkeiten, dem zu entgehen, indem sie zum Beispiel Designelemente deaktivieren, Apps löschen oder das Handy bei benötigter Konzentration nicht in der Nähe haben, sagte Montag (mehr dazu im Beitrag ab S. 12 in dieser Ausgabe).
Weitere Infrastrukturthemen
Infrastrukturseitig sieht das DSD-Zielbild neben dem Einsatz von ETCS auch ein integriertes Leit- und Betriebssystem sowie Digitale Stellwerke (DSTW) vor. Christian Brockschnieder, Bertrand Bachmann und Tobias Weiß von der DB Netz AG berichteten in ihrem Vortrag über Felderprobungen bei Inbetriebnahmen von DSTW.
So werden im Projekt Digitaler Knoten Stuttgart (DKS) als Konsequenz aus den Erfahrungen aus den Felderprobungen Instandhalter und weitere operative Personale von Beginn an in die Inbetriebnahme-Prozesse eingebunden: „Hätten wir zum Beispiel nicht nur die Lastenhefte, sondern auch die Regelwerke zur Betriebsführung angepasst, wären uns einige Probleme erspart geblieben“, so die Referenten, die eine frühzeitige Abstimmung mit allen Beteiligten, großzügig bemessene Zeiträume, Prozessvisualisierungen und eine offene Kommunikation bei der Inbetriebnahme von DSTW empfahlen.
Auch Professor Dr.-Ing. Jörn Pachl von der TU Braunschweig behandelte in seinem Vortrag ein klassisches Infrastrukturthema. Wobei er sein Sujet „Absicherung von Hilfsbedienungen in Stellwerken im internationalen Vergleich“ historisch behandelte und die Entwicklungen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein in unterschiedlichen Ländern skizzierte. Sein Fazit, nicht zuletzt in Hinblick auf die gegenwärtig so dringende Modernisierung deutschen Schienennetzes: Die Eisenbahner*innen sollten häufiger über den eigenen Tellerrand schauen und sich generell internationaler orientieren.
Sicherheit aus rechtlicher Sicht
Über „Sicherheit im Eisenbahnbetrieb aus rechtlicher Sicht“ informierte Professor Frank Zwanziger in seinem Vortrag. Der Justiziar der DB Netz AG führte die Teilnehmenden in die gesetzlichen Rechtsgrundlagen der Sicherheit im Eisenbahnbetrieb ein und kam dabei unter anderem auch auf die berufliche Funktion des EBL zu sprechen.
Der EBL sei „ein Privatvergnügen des deutschen Eisenbahnrechts“: Alle Eisenbahninfrastrukturunternehmen mit Sitz im Inland und alle Eisenbahnverkehrsunternehmen, die keine Sicherheitsgenehmigung (SiBe) bräuchten, benötigten einen EBL, der unter anderem die Umsetzung von Rechtsvorschriften und Anweisungen von Aufsichtsbehörden sowie deren Einhaltung zu überwachen habe. Im Grunde sei ein EBL ein fleischgewordenes Sicherheitsmanagementsystem, sofern er die angeordneten Maßnahmen auch schriftlich niederlege, veranschaulichte Zwanziger die besondere Bedeutung des EBL im deutschen System Bahn.
Zusammenfassung und Fazit
Weitere Vorträge im Laufe des Kongresses hielten Boris Westhoff von der Eisenbahnuntersuchungsstelle des Bundes und Nils Bieneck vom Eisenbahn-Bundesamt. Ferner referierten Nicole Heyder (Advice Partners GmbH zum Nutzen von Krisensimulationen und Andreas Sommer (Albtal-Verkehrs-Gesellschaft) zum Thema „Tf-Ausbildung von Geflüchteten“. Außerdem hielt die Psychologin Christine Lehmann im Vorfeld der Veranstaltung einen Vortrag, der sich um „Stress im Betrieb“ drehte und der für alle die Teilnehmenden gedacht war, die nicht zur Exkursion bei den Nürnberger Verkehrsbetrieben (VAG) kommen konnten: Dort stellte Andreas May die automatische U-Bahn in Nürnberg vor.
Gastgeberin Sylke Schmidt zeigte sich zum Abschluss sehr zufrieden mit dem 19. EBL-Kongress. Dass die Veranstaltung in diesem Jahr bereits im September stattfand, soll aber ein einmaliges Experiment gewesen sein: Im kommenden Jahr, zum 20-jährigen Jubiläum, findet der EBL-Kongress von DB Training am 12. bis 14. November an dem Ort statt, an dem die Kongressreise einst begann: in Dresden.
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