Deutschland-Ticket, Energiekosten, Personalgewinnung, Infrastrukturausbau und Wettbewerb: Für die handelnden Akteure im Schienennahverkehr gibt es viel zu besprechen, nachdem vom Jahr 2022 einige wichtige Impulse für die Zukunft ausgingen. Dazu hatte der Dachverband der Aufgabenträger zur etablierten Fachtagung nach Fulda geladen.
Die ruhigeren Zeiten, auf die viele gehofft hatten, sie wollen sich nicht so recht einstellen: Nach der Corona-Pandemie begann der Krieg in der Ukraine, und zu solchen kaum kalkulierbaren externen Ereignissen kam für die Branche ebenso überraschend die Vorstellung des 9-Euro-Tickets und der Hochleistungskorridore. Mit diesem Rückblick begann Thomas Prechtl, Präsident des Gastgebers Bundesverband Schienennahverkehr (BSN), der die etwa 400 Teilnehmenden in Fulda auf die Tagung einstimmte, die in diesem Jahr erstmals unter dem Namen „Treff.SchienenNah“ stattfand.
Eine Zeitenwende für den öffentlichen Nahverkehr könne mit dem Deutschlandticket anbrechen, so Prechtl weiter, allerdings müsse in der Umsetzung alles stimmen, um die Fahrgäste nicht zu verprellen und von der Einfachheit des Systems zu überzeugen. Mit dem Ausbau der Schieneninfrastruktur – und zwar flächendeckend, nicht nur auf ausgewählten Strecken – sowie dem Fachkräftemangel benannte Prechtl zwei weitere Großbaustellen und Themen des diesjährigen Branchentreffs.
Einen zweiten eröffnenden Impuls lieferte Christian Grotemeier, Mobilitätsforscher und Professor in Wiesbaden, der auch über Praxiserfahrung in leitenden Funktionen in der Logistikbranche verfügt. Aus eben dieser Branche kamen einige Beispiele, aus denen der Schienenpersonennahverkehr (SPNV) aus Sicht Grotemeiers lernen kann, etwa die datenbasierten Geschäftsmodelle und Digital Twin-Strategien des Paketdienstes DHL und der Drogeriekette dm. Auf spontane hohe Zustimmung, ermittelt per Echtzeitumfrage unter den Zuhörenden, stieß dabei die Idee, das Prinzip der digitalen Briefmarke, also eines einfachen Buchstabencodes, auf den Fahrscheinkauf zu übertragen.
Vertrieb: Mehr Disruption wagen?
Optimismus zu verbreiten war das Anliegen von Johann von Aweyden, Geschäftsführer des Deutschlandtarifverbunds (DTVG), einer 2020 gegründeten Gesellschaft von Aufgabenträgern und Verkehrsunternehmen, die sich um die Aufteilung der Fahrgeldeinnahmen im Nahverkehr kümmert. Er rief alle Anwesenden dazu auf, für das Deutschland-Ticket zu werben und so viel wie möglich davon zu verkaufen, ungeachtet der Nachteile, die der neue Tarif mit sich bringe. Aktuell brauche die Branche vor allem Zuversicht, so Aweyden. Und volle Züge übten Druck auf die Aufgabenträger aus, Mittel für mehr Fahrzeuge und Personal bereitzustellen.
Kommt nun die große Tarifwende, wie sieht der Fahrscheinvertrieb der Zukunft aus und wird bald alles digital – darum drehte sich die anschließende Podiumsdiskussion. DTVG-Chef Aweyden riet den beteiligten Akteuren, mehr Mut zu wagen und sich trauen, die Kunden zu führen. Eine Position, die Mobilitätsforscher Grotemeier unterstützte: Es sei manchmal gut, unpopuläre Entscheidungen zu treffen, die mittelfristig zum Erfolg führen.
Mit Blick auf die Vertriebskanäle und Formate sagte Anja Gärtner, Leiterin der AG Tarif und Vertrieb beim BSN, die Branche könne eine Richtung vorgeben, sollte aber alles im Angebot haben – Treiber von Veränderung seien letztlich die Fahrgäste und ihre Bedürfnisse. Ähnlich zurückhaltend gegenüber disruptiven Strategien äußerte sich Carmen Maria Parrino, zuständig für den Nahverkehr bei DB Vertrieb: Nicht die Branche gebe vor, was die Kunden wollten. Erst in mittelfristiger Perspektive, in den kommenden Jahren, werde absehbar sein, welche Veränderungen die Einführung des Deutschland-Tickets für Vertriebsstrukturen und Tariflandschaft in Gang gebracht hat.
Hoffnung auf den Aufbruch beim Schienenausbau
Mit den im vergangenen Jahr vorgestellten Plänen der DB zur Generalsanierung stark befahrener Schienenkorridore befasste sich ein zweiter Themenblock auf der Tagung. Philipp Nagl, Vorstandsvorsitzender der für die Umsetzung verantwortlichen DB Netz AG, erläuterte auf dem Podium die neue Vorgehensweise, die als erstes auf der Riedbahn angewandt wird. Früher sei auch deshalb nur wenig und punktuell im Schienennetz gebaut worden, da die Baufahrpläne schwierig mit den Anforderungen der verschiedenen Verkehre in Einklang zu bringen sind. Daher werden nun alle Maßnahmen während einer temporären Vollsperrung abgearbeitet, sodass die betroffenen Strecken danach für viele Jahre baufrei sind, so der Plan. Um die Akzeptanz der Fahrgäste zu sichern, brauche es einen hochwertigen Schienenersatzverkehr, der mehr als nur eine Notlösung ist, weshalb die DB eine eigene Busflotte aufbauen werde.
Etwas Wasser in den Wein goss Dirk Bräuer, Verkehrsingenieur und Gründer des Beratungsunternehmens iRFP in Dresden. Er erläuterte zunächst einige Grundsätze des Kapazitätsmanagements und machte deutlich, dass sich die angestrebte höhere Betriebsqualität nicht unbedingt in Form von mehr Leistung ausdrücken müsse, also einer höheren Taktung oder Geschwindigkeit der Züge, sondern vor allem in mehr Zuverlässigkeit. Dies sei aber keine Innovation, sondern etwas, das selbstverständlich vom Schienennetz erwartet werden könne.
Den Nutzen der geplanten flächendeckenden Einführung elektronischer bzw. digitaler Stellwerke sieht Bräuer eher darin, das System übersichtlicher zu machen und die Kommunikation im Betrieb zu vereinfachen. Effektiv im Sinne der Kapazitätssteigerung sei dagegen das Prinzip der Blockverdichtung, wofür das europäische Zugsicherungssystem ETCS jedoch nur eine verfügbare Option sei, die auch Nachteile habe, wie etwa längere Bremskurven.
Wettbewerb unter Kostendruck
Energie, Fahrzeugbeschaffung, Personalkosten: alles wird teurer. Wie unter diesen Bedingungen noch Wettbewerb möglich ist, damit setzten sich die Referierenden, Podiumsgäste und ihr Publikum zum Abschluss auseinander.
Ein klares Bekenntnis zum Wettbewerb auf der Schiene als Treiber für Innovation, Agilität und schlanke Prozesse gab Evelyn Palla ab, die neue Vorstandsvorsitzende von DB Regio. Sie warnte, die Kostenexplosion und die Planungsunsicherheiten würden zu weniger Anbietern am Markt und damit weniger Wettbewerb führen. Gleichzeitig müssten von den Unternehmen nicht zu verantwortende Risiken z.B. bei Verspätungen und Zugausfällen stärker in den Verkehrsverträgen abgefedert werden, etwa in Form verlässlicher Kostenindizes und Anpassungsklauseln.
Auch Netinera-Geschäftsführer Jost Knebel verwies auf die Nöte und Sorgen der Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU), die aufgrund der im SPNV üblichen sehr geringen Margen extrem anfällig für Kostensteigerungen seien. Dazu zähle auch die Belastung durch Pönalen (Vertragsstrafen), welche die Unternehmen für Probleme bestrafen, die sie nicht selbst verursachten oder lösen könnten, kritisierte Knebel und nannte baustellenbedingte Verspätungen als Beispiel. Solche Vertragsbedingungen seien nicht attraktiv und ein Grund dafür, dass es immer weniger Bieter gebe, die sich an Ausschreibungen von Nahverkehrsverträgen beteiligen.
Ein Verkehrsvertrag 2.0 als Rundum-Sorglos-Paket für die EVU? Da wollte Moderator Thorsten Müller, BSN-Vizepräsident und im Hauptberuf Direktor des Zweckverbands SPVN-Nord in Rheinland-Pfalz, nicht mitgehen, da am Ende alle Risiken von den Unternehmen auf die Aufgabenträger übergehen würden.
Ähnlich argumentierte Volker Heepen, Geschäftsführer der Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg: Die Vertragsarchitektur müsse erhalten werden und Aufgabenträger könnten nicht auf jede Veränderung des Marktumfelds mit Anpassungen reagieren. Zudem sei es der Zweck der Pönalen, die Marktteilnehmer im Sinne der Zufriedenheit der Fahrgäste zu steuern.
Scheitert die Wende am Personal?
Kurzum, ein gewisser Interessengegensatz zwischen Aufgabenträgern und Verkehrsunternehmen war nicht zu leugnen und konnte auch in der Diskussion nicht aufgelöst werden. Als das Podium beim Thema Fachkräftemangel angekommen war (siehe auch den Beitrag S. 36), hielt es BSN-Präsidiumsmitglied Heepen sogar für möglich, dass Verkehre wegen fehlendem Personal abbestellt werden müssten. Ein solch düsteres Szenario wollten einige Zuhörer zum Ausklang nicht stehen lassen: Die Branche müsse positiver über sich selbst sprechen und durchhalten, bis die Durststrecke überstanden sei, so eine der letzten Wortmeldungen aus dem Publikum, bevor der Tag in Fulda zu Ende ging.
Der nächste Treff.SchienenNah ist am 14.–15. Februar 2024.
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