Merkliste aktualisiert
Home > Themenwelten > Verkehr > „Das Deutschland-Ticket ist ein Game Changer für den öffentlichen Verkehr“

Fahrscheinvertrieb

„Das Deutschland-Ticket ist ein Game Changer für den öffentlichen Verkehr“

Foto: DB AG/Dominic Dupont

In diesem Monat ist das Deutschland-Ticket als Nachfolger des 9-Euro-Modellversuchs vom vergangenen Sommer an den Start gegangen. Ob das der Einstieg in die Tarifwende im öffentlichen Personennahverkehr ist, diese Frage wurde auf dem diesjährigen Branchentreff SchienenNah in Fulda diskutiert. Deine Bahn sprach mit Carmen Maria Parrino von DB Vertrieb über die Bedeutung des neuen Tickets für die Branche, die Zukunft der Tariflandschaft und der Vertriebsstrukturen im ÖPNV und darüber, wie lange es noch Ticketautomaten und Fahrscheine auf Papier geben wird.

Deine Bahn: Frau Parrino, wie ist das neue deutschlandweite Ticket aus Ihrer Sicht zu bewerten und worin liegt die Bedeutung für die Nahverkehrsbranche?

Carmen Maria Parrino: Der grandiose Erfolg des 9-Euro Tickets hat gezeigt: Viele Menschen haben Lust, den ÖPNV zu nutzen, wenn er preislich attraktiv, und das Ticket einfach zu kaufen ist. Mit dem Deutschland-Ticket – wie schon beim 9-Euro-Ticket – müssen sich die Menschen keine Gedanken mehr über Zonen, Tarifgebiete oder Verbünde machen, um das Angebot zu nutzen. Das Deutschland-Ticket hat aus meiner Sicht diese Merkmale beibehalten: es ist preislich super und im Abo einfach zu erwerben, nämlich digital.

Apropos digital: Die Tarifbedingungen lassen das Deutschland-Ticket nur auf dem Smartphone oder Chipkarte zu. Das könnte für bestimmte Nutzer*innen und Anbieter*innen sicherlich auch ein Ausschlusskriterium sein. In unserer Studie zum „Vertrieb der Zukunft“ haben wir gelernt, dass trotz des technischen Fortschritts auch weiterhin „konventionelle Lösungen“ als Rückfallebene gefragt sind, denn sollte die Technik nicht funktionieren, der Akku des Smartphones leer sein, dann möchte niemand ohne Ticket dastehen. Bis Ende dieses Jahres ist noch ein kontrollfähiges Papierticket zulässig, doch ab 2024 brauchen wir dafür eine gute Alternative. Wie diese aussehen könnte, ist noch offen. Die gesamte Branche muss also im nächsten Schritt, gemeinsam mit der Politik, an entsprechenden Lösungen arbeiten.

Fest steht aber: der ÖPNV wird zunehmend digitaler und einfacher – das Deutschland-Ticket ist ein echter „Game Changer“ für den öffentlichen Verkehr.

Bislang gibt es in Deutschland eine sehr vielfältige Tariflandschaft mit Abo-Modellen, Zeit- und Gruppenkarten, Angeboten für bestimmte Zielgruppen wie Senioren oder Schüler etc. Im Prinzip macht ein Ticket für alle doch dies alles überflüssig. Oder gibt es Gründe, warum die Verkehrsverbünde auch weiterhin spezifische Angebote neben den Einzelfahrscheinen vorhalten sollten?

Es ist sicherlich eine gute Vision für die Zukunft, einen Tarif für Deutschland zu schaffen. Doch sollten wir nicht unterschätzen, was es bedeutet, die heutigen Strukturen abzuschaffen. Jede Veränderung muss klug und überlegt sein und sich vor allem an den Bedürfnissen der Fahrgäste orientieren. Nicht alle Nutzer*innen brauchen immer ein deutschlandweites Angebot und nicht für alle sind die derzeit 49 Euro erschwinglich.

Viele Verbünde haben bereits sinnvolle „Zusatzleistungen“ und Upgrades für das Deutschland-Ticket innerhalb ihres Verbundbereichs entwickelt und diese Entwicklung wird sicherlich auch weitergehen. Wenn wir es schaffen, vielen Menschen das Deutschland-Ticket zur Verfügung zu stellen, dann kann perspektivisch und auch mutig am heutigen Tarifsystem gearbeitet werden.

Neben der Tarifstruktur sind Vertriebswege und Vertriebskanäle ein wichtiges Thema. In der Studie „Vertrieb der Zukunft“ wurden Fahrgäste und potenzielle Fahrgäste nach ihren Erwartungen und Bedürfnissen in Sachen Fahrscheinerwerb befragt. Wo steht die Branche, und was wollen eigentlich die Kunden?

Auch bei der Vertriebsinfrastruktur wollen Fahrgäste Einfachheit. Wir haben sehr dezidiert auf Altersgruppen geschaut, um Glaubenssätze, wie beispielsweise „Oma und Opa möchten immer nur mit Bargeld bezahlen“, zu bestätigen oder zu widerlegen.

Es ist uns gelungen ein differenziertes Bild zu bekommen. Damit gilt es jetzt, gemeinsam mit der Branche und den Besteller*innen aus der Politik, den nächsten Schritt zu gehen und die Frage zu stellen: Welche und wie viele der stationären Formate – Reisezentren oder Automaten – braucht es an welchen Orten, so dass sie den Fahrgästen von Nutzen sein werden. Das Ganze immer auch mit einem Blick auf die Kosten der jeweiligen Formate.

Die Studie „Vertrieb der Zukunft“

  • Themenfelder: Nutzung verschiedender Möglichkeiten des Fahrscheinerwerbs, Akzeptanz der Digitalisierung, Bedeutung von stationärem Verkauf, Automaten und persönlicher Beratung
  • Auftraggeber: DB Vertrieb GmbH, Bundesverband SchienenNahverkehr e.V., Deutschlandtarifverbund GmbH und weitere Branchenakteure
  • Methode: Qualitative Einzelinterviews und anschließende quantitative Befragung
  • Stichprobe: rund 3.000 Personen ab 16 Jahren mit Online-Zugang (repräsentativ)
  • Zeitraum: 2. Halbjahr 2022

Da heute so gut wie jeder ein Smartphone nutzt: Wie lange werden wir noch Fahrscheinautomaten und Ticketschalter an Haltestellen und Bahnhöfen sehen?

In unserer Studie haben wir drei Zukunftsfelder für 2030 identifiziert bzw. aufgestellt, die wir in der Branche diskutieren:

  1. Der Fahrscheinverkauf wird perspektivisch per App bzw. digital erfolgen.
  2. Fahrscheine in Papierform werden zukünftig durch digitale Fahrscheine abgelöst.
  3. Der Fahrscheinautomat wird in Zukunft weiter an Relevanz verlieren.

Der digitale Zugang zu Fahrscheinen wird von Kund*innen akzeptiert und gleichzeitig auch erwartet, im städtischen wie im ländlichen Raum. Trotz aller Akzeptanz und der stetig wachsenden Bedeutung von Internet und Smartphones bzw. Apps bleibt die Relevanz des Fahrkartenautomaten bestehen. Allerdings erwarten die Kund*innen hier technische Verbesserungen und eine einfachere Handhabung.

Gleichzeitig gilt es auch, die Kund*innengruppen an die Hand zu nehmen, die gar nicht oder kaum mit rein digitalen Angeboten erreicht werden. Der Fokus des personenbedienten Verkaufs wird sich mehr und mehr in Richtung Service und Beratung verschieben. Das Vertrauen in die digitalen Formate nimmt zwar zu, doch gleichzeitig sehen wir, dass das Bedürfnis mit Expert*innen im Reisezentrum zu sprechen, sich beraten zu lassen oder um Hilfe zu bitten, bestehen bleibt – z. B. auch bei der eigenständigen Buchung digitaler Angebote. Und das ist ja auch ein weiterer positiver Aspekt am Trend zur Digitalisierung bestimmter Services: dass unsere Mitarbeitenden so noch mehr Zeit haben für die Beratung.

Carmen Maria Parrino (Foto: DB Vertrieb GmbH)

Wie ist der aktuelle und zukünftige Stellenwert der Beratung durch digitale Assistenten?

Generell besteht eine hohe Akzeptanz gegenüber der automatisierten Beratung beim Ticketkauf, besonders die jüngeren Fahrgäste (bis 35 Jahre) stehen den digitalen Assistenten und der automatisierten Informationsbereitstellung sehr positiv und offen gegenüber. Nichtsdestotrotz ist der Bedarf, sich an Mitarbeitende vor Ort zu wenden, weiterhin stark ausgeprägt und darf nicht unterschätzt werden.

Teilweise bestehen Zweifel darüber, ob die Software beispielsweise die gestellten Fragen und das persönliche Anliegen richtig verstehen kann. Diese Angst besteht beim persönlichen Austausch mit einem Menschen nicht. Diese Ängste und Zweifel müssen wir in der Branche immer mitdenken auf dem Weg, unsere Fahrgäste bestmöglich informieren und beraten zu können.

Wir sehen: Unsere Kund*innen wünschen sich einen Service, der rund um die Uhr erreichbar und schnell und einfach nutzbar ist. Deshalb werden die digitalen Services – und auch die Self-Services – immer beliebter, vor allem, wenn man sie über das Smartphone oder Tablet nutzen kann. Dieser Trend spiegelt sich auch in anderen Branchen wider. Krankenkassen, Fluggesellschaften, Banken und sogar Behörden: Immer mehr Unternehmen setzen auf gute digitale Self-Service-Lösungen (z. B. Rechnungen einsehen, Kundenkonto verwalten, Kommunikation mit den Unternehmen). Dabei werden auch für uns der Einsatz künstlicher Intelligenz oder Chat Bots perspektivisch eine immer größere Rolle spielen. Aktuell setzen wir diese aber eher im Hintergrund bei den Self-Service-Funktionen ein.

Bei sogenannten In-/Out-Systemen checken Fahrgäste ein und aus, z. B. per Chipkarte und Lesegerät am Bahnsteig oder im Fahrzeug, der Fahrpreis wird nach der zurückgelegten Strecke berechnet. Welche Rolle werden solche Systeme spielen?

Ich persönlich halte In/Out Systeme für wichtig, flächendeckend, mit einem einfachen Tarif und einer Bestpreisgarantie, die nicht dem Preis des Deutschland-Tickets entsprechen sollte. Warum erwähne ich dies so explizit? Das monatliche Abo muss immer deutlich attraktiver sein als die Einzelpreise in ihrer Summe. Wir wollen das Verhalten der Fahrgäste und Nicht-Fahrgäste nachhaltig beeinflussen.

Zurück zu In-/Out: Nehmen wir an, der stationäre Verkauf – wie Automat und personenbedienter Verkauf – wird weiter rückläufig sein, dann braucht es eine gute Alternative. Einsteigen, losfahren, abrechnen – ziemlich einfach.

Kundenzentrierte Angebots- und Produktentwicklung – oder der Fokus auf die „Customer Journey“ – ist das Gebot der Stunde, auf der anderen Seite ist viel von Disruption die Rede. Sollte die Branche mutiger vorangehen und auch mal gewagte Entscheidungen treffen, wie etwa Tickets auf Papier komplett abzuschaffen?

In meiner Wahrnehmung ist unsere Gesellschaft deutlich bereiter für Neues als es die Politik oder unsere Branche annehmen. Unsere Studie zum Vertrieb der Zukunft bildet einen guten Querschnitt der Bevölkerung ab. In der Studie hat sich gezeigt, dass es eine Verlagerung in Richtung digitale Angebote geben wird und das Papierticket dabei einem eher rückläufigen Trend folgt.

Trotz der voranschreitenden Digitalisierung bleibt aber auch Altbewährtes weiterhin wichtig: Bei aller Offenheit und Akzeptanz für die Automatisierung bleibt der Wunsch bestehen, im Bedarfsfall auf einen „echten“ Menschen zugehen zu können. Wir dürfen nie vergessen, dass am Ende des Tages unsere Kund*innen entscheiden, wo sie ihr Ticket erwerben. Das bedeutet, dass wir die Erwartungen und Bedürfnisse unserer Fahrgäste konsequent und permanent im Blick behalten und entsprechend danach handeln müssen.

Was ist Ihr persönlicher Wunsch für den Fahrscheinvertrieb der Zukunft?

Ich würde mir wünschen, dass wir nicht im Klein-Klein verharren, sondern größer denken. Transformationen sind nicht innerhalb von Tagen erledigt, sondern benötigen Zeit. Doch es braucht einen Anfang: Das Deutschland-Ticket ist ein klasse Beginn! Menschen und Organisationen im Rahmen dieser Veränderung zu begleiten ist unser Job: digitales Onboarding, also die Befähigung zur Nutzung der digitalen Kanäle, als Stichwort.

Der Vertrieb von Tickets befindet sich auf dem Weg zu neuen Formaten. Wir müssen Neues zulassen und Altes loslassen, wir dürfen die Menschen nicht vor den Kopf stoßen und müssen dennoch mutig vorwärts gehen, statt auf der Stelle zu treten.


Artikel als PDF laden