Im Zuge der Modernisierung des deutschen Eisenbahnnetzes richtet sich der Blick auch auf die Erneuerung der Stellwerkstechnik. Dabei fällt immer wieder der Begriff des „Digitalen Stellwerks“. In diesem Artikel soll ein Einblick in den Hintergrund und die Entwicklung der Stellwerke gegeben und die Perspektiven der digitalen Technik aufgezeigt werden.
In Deutschland werden seit über 150 Jahren Stellwerke zur Steuerung des Bahnverkehrs eingesetzt. Ihr Nutzen ist es, betriebliche Abläufe durch den Einsatz von Technik für den Menschen handhabbar zu machen und dabei insbesondere sicherheitliche Bedingungen und Ausschlüsse vorzuhalten. Die sogenannte Signalabhängigkeit wird in den Stellwerken hergestellt und verhindert so den menschlichen Fehler im Regelbetrieb.
Das Umstellen von Weichen in die für eine Zugfahrt richtige Lage, das anschließende Feststellen der Weichen zur Bildung einer Fahrstraße und das abschließende Stellen eines Signals auf einen Fahrtbegriff sind die wesentlichen Funktionen eines Stellwerks.
All diese Funktionen haben letztendlich nur zwei Zustände: Halt und Fahrt am Signal, Abzweigend oder Gerade an der Weiche. Zwischenzustände sind, auch über Signal und Weiche hinaus, in einem Stellwerk nicht möglich.
Schaut man sich die rein technische Definition von „Digital“ an, so muss man sehr schnell feststellen, dass Stellwerke oder auch die Signaltechnik als Ganzes schon immer digital sind. Was aber bedeutet es dann ein Stellwerk, welches digital arbeitet, zu digitalisieren und damit sogar eine ganz neue Stellwerksgeneration zum Leben zu erwecken?
Um diese Frage verständlich zu beantworten, lohnt sich ein Blick in die Geschichte und Gegenwart der Stellwerkstechniken. Aufgrund der im Gegensatz zu anderen Ländern verhältnismäßig großen und komplexe Streckenführungen des Eisenbahnnetzes müssen in Deutschland über 4.000 Stellwerke zur Steuerung und Sicherung des Bahnverkehrs vorgehalten werden.
Die heutige Situation und ihre Vorgeschichte
Bedingt durch eine lange Historie im Auf- und Ausbau der Eisenbahnnetze und den begleitenden politischen und gesellschaftlichen Wandel, welcher die Eisenbahn dem Auto unterordnete und sogar dessen Entwicklung beispielsweise durch die Finanzierung des Autobahnbaus förderte, fehlte den deutschen Eisenbahnen in den Nachkriegsjahren die Mittel, die Steuerungstechniken konsequent zu vereinheitlichen und ältere Stellwerke durch moderne, leistungsfähige und dem Stand der Technik entsprechende Anlagen zu erneuern.
Die Situation im Jahr 2023 spiegelt diese Historie mit 704 mechanischen und 285 elektromechanischen Stellwerken, welche bereits vor 1940 in Betrieb waren, wider. Auch die seit Mitte der 1960er Jahre durch die Erneuerung solcher Anlagen hervorgegangenen 1.326 Relaisstellwerke sowie die zuletzt erneuerten elektronische Stellwerke, welche mittlerweile einen Bestand von über 1.600 Stück ausmachen, können die zwingend erforderliche Grundsanierung nicht kompensieren.
Allein in der ersten Stellwerksgeneration, den mechanischen Stellwerken, muss sich die Deutsche Bahn heute 16 verschiedene Bauformen leisten, deren Bedienung und Instandhaltung sowohl beim Betriebs- als auch dem Instandhaltungspersonal eine hohe Detailkenntnis voraussetzt und so z.B. die Möglichkeiten einer flexiblen Disposition von Personal nahezu ausschließt.
Aber auch die Beschaffung von Ersatzteilen, welche in der mechanischen Technik heute fast einfacher ist als in der Relaistechnik, stellt die Betreiber dieser Anlage vor besondere Herausforderungen. Ohne ein Obsoleszenzmanagement ist der Betrieb eines solchen Technikzoos der Alttechniken heute nicht mehr möglich. Die meisten dieser Anlagen wären heute nicht mehr nutzbar, würden nicht mit hohem organisatorischen und wirtschaftlichen Aufwand Rückbauteile aufgearbeitet und als Ersatzteile wiederverwendet.
Bedingt durch technische Weiterentwicklungen konnte in den 1980er Jahren mehr und mehr die Halbleitertechnik die Relaistechnik ablösen. Die bis zum damaligen Zeitpunkt aus elektrotechnischer Sicht einfachen Stromlaufpläne der Elektromechanischen und Relaisstellwerke wurden auf Leiterkarten und Integrierte Schaltkreise (ICs) übertragen und durch Software auf die örtlichen Anforderungen programmiert. Es entstand die Generation der Elektronischen Stellwerke (ESTW).
Das Problem der proprietären Lösungen
Ein großer Nachteil aus Betreibersicht wurde damit für die Zukunft noch enger manifestiert: die Herstellerproprietät. Jeder Hersteller einer Signalanlage konstruiert sein Stellwerksystem und muss in einem sehr aufwendigem Zulassungsverfahren den Nachweis erbringen, dass die Funktionen der Anlage sicher sind.
Der sogenannte Sicherheitsnachweis schließt zum Ende der Entwicklung das System quasi ab. Jede Möglichkeit, z.B. den Weichenantrieb des Herstellers A in die Anlage des Herstellers B einzusetzen, wird damit untersagt. Alles was in einer Stellwerksanlage repariert, um- oder nachgebaut wird, muss in ihren Funktionen erneut durch den Hersteller der Anlage sicherheitlich nachgewiesen werden, bevor sie eine erneute Zulassung erhalten kann.
Die DB Netz AG als Betreiber der Anlage begibt sich somit ab der Beauftragung einer neuen Stellwerksanlage in eine Abhängigkeit, die auf 30 Jahre oder mehr ausgelegt ist. Abkündigungen von Komponenten des Herstellers führen zu Obsoleszenz-Problemen, die sich heute bereits auch in der ESTW-Technik zunehmend bemerkbar machen. Die Folge: Sind bestimmte Bauteile nicht mehr lieferbar, ist der Neubau der gesamten Stellwerksanlagen die Folge.
Im Bereich der DB ergibt sich damit schon heute die merkwürdige Situation, dass mechanische Stellwerke weiter betrieben werden müssen. Dazu muss man wissen, dass die DB über ihren Eigentümer, die Bundesrepublik Deutschland, nur eine bestimmte Summe an Investitionsmitteln für die Erneuerung ihrer Anlagen erhält. Dieses Geld kann dann nicht mehr für die Erneuerung der alten Mechanischen- und Relais-Stellwerken genutzt werden, sondern muss in verhältnismäßig junge elektronische Stellwerke investiert werden. Hieraus resultiert auch der mittlerweile öffentlich bekannte Investitionsrückstau.
Das Konzept des DSTW
Um insbesondere diese Situation zu lösen, wurde die Konzeption einer neuen Stellwerksgeneration ins Leben gerufen, welche den aus technischer Sicht (wie beschrieben arbeiten ja alle Stellwerke digital) irreführenden Namen Digitales Stellwerk (DSTW) erhielt. Die Idee ist es, Grundfunktionen und Funktionsbausteine eines Stellwerks zu definieren und diese mit einheitlich vom Betreiber vorgegebenen Schnittstellen zu verbinden.
Ähnlich wie der vor kurzem in Europa genormte USB-Stecker mit dem zukünftig jedes neue Handymodell, unabhängig vom Hersteller, geladen werden kann, sollen zukünftig z.B. die Weichenantriebe oder Signale aller Hersteller untereinander kompatibel zueinander werden. Bauteilobsoleszenzen werden damit eliminiert und gleichzeitig können auch bisher in Deutschland nicht etablierte Hersteller einzelne Komponente anbieten, ohne gleich ein gesamtes Stellwerksystem entwickeln zu müssen.
In der Praxis bedeutet dies, dass die DB Netz AG zukünftig die Stromversorgung und das Netzwerk, mit dem Signale und Weichen betrieben werden, selbst herstellt und die daran anzuschließenden Anlagenteile auch bei unterschiedlichen Herstellern beauftragen kann.
Aber auch die Bedienung der Stellwerke soll einheitlich werden. Zukünftig soll es nicht mehr notwendig sein, für jeden Hersteller eigene Qualifikationen zu entwickeln und spezifische Besonderheiten der Hersteller zu kompensieren.
Theoretisch hört sich das jetzt alles sehr einfach an. Die DB gibt die Funktionen und Bedienung vor und die Hersteller entwickeln diese dann. In der Praxis gestaltet sich dies jedoch sehr viel aufwendiger. Die Entwicklung neuer Anlagen der Sicherungstechnik dauert aufgrund der erforderlichen Nachweise und Zulassungsverfahren in der Regel zwischen drei und zehn Jahren. Ein neues Stellwerksystem, welches alle Funktionen in seinem Kern besitzt, dauert sogar noch deutlich länger. Gleichzeitig ist nachvollziehbar, dass sich auch die Hersteller auf die neue Situation einstellen müssen, um ihre bisherige Entwicklung über die neuen Schnittstellen für die Mitbewerber zu öffnen.
Es muss daher eingestanden werden, dass zwischen der Entwicklung und dem erstmaligen Einsatz eines DSTW, welches die gewünschte volle Kompatibilität besitzt und alle Anforderungen des Bestellers erfüllt, erst nach sehr vielen Jahren gerechnet werden kann. Da seit dem Aufkommen dieser Idee Mitte der 2000er Jahre schon eine lange Zeit vergangen ist, darf man sich den heutigen Stand einmal ansehen.
Die zukünftige Systemarchitektur
und ihre Vorteile
Die DB betreibt heute ESTW der neusten Generation von vier Herstellern. Diese Hersteller haben spätestens seit 2004 in ihren jüngsten Stellwerken eine eigene Stellwerksarchitektur, welche vergleichbar mit dem Betriebssystem eines PC ist. Beginnend am Bedienplatz über die zentrale Einheit, in der Fahrstraße gebildet werden und die signaltechnische Abhängigkeit hergestellt wird, bis zu den Weichenantrieben, Gleisfreimeldeanlagen und Signalen sind diese Systeme in sich abgeschlossen und bieten zunächst keine Möglichkeit „einen anderen Stecker hinein zu stecken“.
Um diese Situation zu lösen, wurde zunächst ein einheitlicher Schnittstellenstandard geschaffen: das Standard Communication Interface (SCI). Alle über diese Schnittstelle kommunizierenden Anlagen sprechen die gleiche Sprache.
Gleichermaßen wird die Stellwerks-Zentraleinheit zukünftig eindeutige Befehle an die Weiche geben, dass diese eine bestimmte Lage annimmt und die Weiche meldet sich mit der Bestätigung zurück. Gleiches erfolgt in Richtung Signal, Block, Bahnübergang oder der ETCS-Zentraleinheit, dem RBC.
Die Spezifikation der SCI ist mittlerweile in ihrer ersten Entwicklungsstufe beschrieben und kann von allen Herstellern genutzt werden. Somit kann theoretisch die Zentraleinheit des Herstellers A mit dem Signal des Herstellers B kommunizieren. Fehlen nur noch die Hersteller, die sich der Spezifikation annehmen und diese vollständig umsetzen.
In den ersten, auch öffentlich beschriebenen Pilotprojekten von DSTW-Stellwerken erfolgte diese Umsetzung leider noch nicht. Grund dafür sind die, wie bereits erwähnt, aufwendigen Entwicklungsverfahren und Nachweise, welche eine vollständige Systemintegrität bestätigen müssen.
Die bisherigen Anlagen verfolgten daher weiterhin eine herstellerspezifische Lösung, welche z.B. nur Teile des SCI-Protokolls umsetzten. Sicher spielen dabei aber auch wirtschaftliche und strategische Abwägungen der Hersteller eine nicht unwesentliche Rolle.
Doch die Entwicklung geht weiter. Gefördert durch weitere Pilotprojekte oder auch das Großprojekt Stuttgart, entsteht mehr und mehr eine einheitliche Netzwerkarchitektur, welche es in einigen Jahren auch ermöglicht, die Komponenten der Hersteller untereinander zu mischen. Die ersten Lösungen in dieser Richtung wird die Schnittstelle zum Bahnübergang (SCI-LX) und zum Nachbarstellwerk (SCI-ILS) sein.
Diese beiden Schnittstellen stellen heute die größte Herausforderung aus dem Stellwerk heraus dar. Beim Block ist es die fast schon unüberschaubare Anzahl an Variationen, die dadurch entstanden sind, dass jeder Stellwerkstyp eigen ist und jede Blocklösung damit neu entwickelt werden musste.
Bei der Bahnübergangssicherungsanlage (BÜSA) sind es die mit den heutigen Schnittstellen entstandenen engen Restriktionen, die zuletzt auch zu Kapazitätshemmnissen bei der Fahrplangestaltung führen, da z.B. keine Fahrstraßen des Stellwerks bei der Schließung einer BÜSA berücksichtigt werden können. Das soll nun spätestens 2024 der Vergangenheit angehören. Die Vorgabe zum Einbau dieser beiden Schnittstellen wird dann verpflichtend für alle Neubauten werden.
Eine weitere Perspektive, die das DSTW bietet, ist die hohe Flexibilität einer zentralen Einheit (heute dem eigentlichen ESTW). Die heutigen Stellwerke sind, bedingt durch physikalische Gesetze, in ihren Stellentfernungen begrenzt, da z.B. ein Strom vom Gebäude zur Weiche übertragen werden muss. Diese Stellentfernungen betragen rund 8 km und können nur mit aufwendigen herstellerspezifischen Systemlösungen, wie z.B. mit einem ausgelagerten Stellrechner, dem ESTW-A, gelöst werden.
Die Zentraleinheit des DSTW wird die Komponenten der Außen- und Nachbaranlagen, welche als eigenständige Einheiten, ausgerüstet mit einem eigenen Rechner ausgestattet sind, über das neue DSTW-Netzwerk ansteuern. Damit sind der Entfernung keine Grenzen mehr gesetzt und die Zentraleinheiten des Stellwerks können zukünftig konzentrierter an wenigen Orten aufgestellt werden. Die Entstörung und Wartung der Anlagen wird damit, im Vergleich zum ESTW, deutlich effizienter.
Gleichzeit wird es möglich, die Verfügbarkeit zu erhöhen, indem eine zweite Zentraleinheit im Netzwerk z.B. deren Ausfall oder eine Kabelunterbrechung kompensiert.
Damit entsteht ein großes Netzwerk in Deutschland, welches Zentraleinheiten an unterschiedlichsten Orten verbindet und so die Elemente der Außenanlagen (Weichen, Signale, etc.) steuert und bei Bedarf durch redundante Einheiten unterstützen kann.
Unabhängig davon erfolgt die Einbindung der neuen einheitlichen Bedienplätze, die anders als heute, nicht nur in sieben Betriebszentralen konzentriert werden müssen. Theoretisch kann zukünftig die Bedienung jeder Betriebsstelle auf jeden Bedienplatz aufgeschaltet werden.
Fazit und Ausblick
Insgesamt wird mit dem DSTW sowohl für den Betrieb als auch für die Instandhaltung eine zukunftsorientierte Lösung geschaffen, welche die heutigen vielen spezifischen Lösungen ablöst und in ein einheitliches und zukunftsorientiertes modulares System überführt.
Dabei entsteht auch eine Vielzahl neuer Innovationen und Standards, welche in anderen Bereichen schon lange nicht mehr neu sind. Unter anderem soll die Diagnose von Störungen durch eine tiefe Analysemöglichkeit innerhalb der Stellwerksanlage zu deutlich schnelleren Entstörzeiten führen. Auch ist denkbar, dass die Signalanlagen zukünftig schon vor einem absehbaren Ausfall auf sich aufmerksam machen.
Inwieweit durch die zukünftige Netzwerktechnik der Stellwerke auch eine Erhöhung der Kapazität, allein im neuen DSTW über die beschriebene einheitliche Netzwerkverbindung zwischen Stellwerk und Bahnübergang hinaus, möglich sein wird, bleibt abzuwarten. Hier wird insbesondere die gleichzeitige Einführung von ETCS Level 2 ohne Signale die wesentliche Rolle spielen, können doch durch den Verzicht auf Signale und die dynamische Steuerung der Züge die heutigen starren Beschleunigungs- und Bremsvorgänge der Züge flexibilisiert werden.
Sicher ist auch, dass mit der DSTW-Technik ein zukunftsorientierter Weg eingeschlagen wurde, der perspektivisch vieles möglich machen wird, was heute noch nicht für möglich gehalten wird.
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