Kurzfristigeres Handeln in langfristigeren Horizonten: Das System Bahn hat eine Schlüsselrolle bei der klimagerechten Umgestaltung des Verkehrssektors inne, kommt mit der Umsetzung seiner hoch gesteckten Ziele aber nicht so recht hinterher. Auf dem 18. Kongress für Eisenbahnbetriebsleiter und Sicherheitsmanager von DB Training, Learning & Consulting diskutierten Vortragende und Teilnehmende darüber, was für eine „goldene Zukunft“ der Schiene vonnöten wäre.
Am 15. und 16. November 2022 fand der EBL-Kongress von DB Training, dem Beratungs- und Qualifizierungsdienstleister der Deutschen Bahn AG, in Cottbus statt. Rund 150 Teilnehmende fanden ihren Weg in die brandenburgische Universitätsstadt, weitere 30 kamen online dazu.
Thematische Schwerpunkte des Programms waren am ersten Tag die aktuellen politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen für das System Bahn sowie innovative Antriebsarten für Schienenfahrzeuge. Am zweiten Tag standen der Fachkräftemangel und die Herausforderungen in der Aus- und Weiterbildung im Mittelpunkt. Gastgeberin Sylke Schmidt hatte mithilfe ihres Organisationsteams und des Fachbeirats der Veranstaltung das Programm konzipiert. Moderator der Veranstaltung war wie gewohnt Thomas Hösterey.
Politisch-rechtliche Rahmenbedingungen
Den politisch-rechtlichen Rahmen, in dem sich die Akteure im System Bahn derzeit bewegen, steckten in den ersten beiden Vorträgen Dorothee Martin und Prof. Frank Zwanziger ab.
Dorothee Martin, verkehrspolitische Sprecherin der SPD im Bundestag und Mitglied des Aufsichtsrats der Deutschen Bahn, betonte in ihrem Vortrag die Schlüsselrolle des Verkehrsträgers Schiene für eine nachhaltige Verkehrswende, mahnte gleichzeitig aber ein höheres Tempo bei der Umsetzung der politischen Ziele an: Das 9-Euro-Ticket habe die Schiene ins Zentrum des öffentlichen Debatte katapultiert, es sei dabei aber auch sichtbar geworden, unter welcher Belastung Mitarbeitende, rollendes Material und Infrastruktur stünden. Mit der gemeinwohlorientierten Umgestaltung der DB-Infrastruktursparte und der Einführung des Deutschlandtakts, die eine Erhöhung der Netzkapazitäten notwendig machten, warteten bereits die nächsten Großprojekte auf das System Bahn, sagte Martin.
Allen kritischen Einwänden aus dem Publikum zum Trotz, die zum Beispiel auf bestehende Finanzierungslücken für den Ausbau des Öffentlichen Personennahverkehrs aufmerksam machten oder die oftmals fehlende Konsequenz der Politik kritisierten, wenn es um die Durchsetzung von Baumaßnahmen für die Schiene in den eigenen Wahlkreisen geht, ließ Martin keinen Zweifel am grundsätzlichen Ziel der Bundespolitik: „Es muss doch klar sein: Wir müssen groß in die Infrastruktur investieren“.
Dass Anwohnerproteste bei der Umsetzung wichtiger Bauvorhaben immer wieder zu erheblichen Verzögerungen oder gar den Abbruch derselben führen können, räumte auch Prof. Frank Zwanziger in seinem Vortrag ein. Der Gesetzgeber unternehme viel, um den rechtlichen Rahmen des Systems Bahn den Anforderungen anzupassen. Was man aber nicht so ohne Weiteres ändern könne, sei die Mentalität der Bürger*innen, sagte der DB-Syndikus.
Zwanziger stellte den Teilnehmenden die wichtigsten Neuerungen im Eisenbahnrecht vor und ging dabei unter anderem auf das Allgemeine Eisenbahngesetz (AEG) ein. Die jüngsten Änderungen im AEG sollten zum Beispiel helfen, Planfeststellungsverfahren zu beschleunigen (§ 18). Außerdem beinhalte das AEG nun erstmals eine gesetzliche Definition von Bahnanlagen (§ 2 Abs. 6) und hätten Anschlussbahnen einen durchsetzbaren Anspruch darauf, an das Schienennetz angeschlossen zu werden (§ 13). Das Gesetz sehe nun vor, dass die DB Netz AG für den Bau und Betrieb der Anschlusseinrichtungen die Kosten zu tragen habe und anfallende Baukosten hälftig geteilt würden – das bedeute eine Belastung für die Eisenbahnen des Bundes, sieht Zwanziger letzteren Punkt kritisch.
Innovative Fahrzeugantriebe
Nach dieser politisch-rechtlichen Rahmensetzung folgten am ersten Veranstaltungstag Vorträge zum Thema innovative Antriebe für Schienenfahrzeuge. Hintergrund: Derzeit sind 61 Prozent des Schienennetzes in Deutschland elektrifiziert, und 90 Prozent der Verkehrsleistung werden auf diesen Strecken erbracht. Da insbesondere die erste und letzte Meile im Güterverkehr und auf Nebenstrecken keine Elektrifizierung aufweisen, steckt in den fehlenden 10 Prozent nicht nur nennenswertes Potenzial zur Verbesserung der Klimabilanz, sondern auch zur effizienteren Nutzung des Netzes, zum Beispiel durch wegfallende Lokwechsel.
Die Entwicklung innovativer Antriebe ist in den vergangenen Jahren für die Schienenfahrzeughersteller auch attraktiver geworden, da die Elektrifizierung von Nebenstrecken und kurzen Gleisabschnitten wirtschaftlich häufig schwer darstellbar ist. Die neuen Antriebe bieten außerdem eine Alternative zu den leistungsstarken, aber der Klimabilanz nicht zuträglichen Dieselloks, die häufig auf Nebenstrecken ohne Oberleitungen gefahren werden.
Einen wissenschaftlichen Blick auf die Entwicklung unterschiedlicher alternativer Antriebsformen warfen in ihrem Vortrag Dr.-Ing. Martin Kache und Philipp Streek vom Deutschen Zentrum für Schienenverkehrsforschung (DZSF). Darüber hinaus stellten die beiden Ressortforschenden laufende Projekte des DZSF zum Thema vor.
Zunächst gab Kache einen systematischen Überblick über „die neue Vielfalt im Fahrzeugpark“, der inzwischen von herkömmlichen Diesel- und Elektrotriebfahrzeugen über Hybrid- bis zu Wasserstofftriebfahrzeugen reicht. Zu den derzeit viel Aufmerksamkeit auf sich ziehenden wasserstoffbetriebenen Fahrzeuge bemerkte Kache, dass deren Umweltbilanz maßgeblich von der Herkunft des Wasserstoffes und der Art, wie er zum Fahrzeug gelangt, abhänge. Streek stellte derweil die aktuellen Forschungsprojekte des DZFS zu innovativen Antrieben vor: zur Modernisierung von Antriebsarten von Nebenfahrzeugen, zur Integration erneuerbarer Energien in Tank- und Ladeinfrastrukturen und zum Potenzial von Photovoltaik-Anlagen auf der Schieneninfrastruktur.
Praxisbeispiel HVLE
Ein anschauliches Beispiel aus der Praxis der Umrüs-tung von Fahrzeugflotten auf andere Antriebsarten gab im Anschluss Uwe Wullstein, Leiter Technik bei der Havelländischen Eisenbahn AG (HVLE).
Seit 2009 organisiert das Unternehmen den Einsatz von Schuttgüterzügen mit Lasten über 4.000 Bruttotonnen zunächst mithilfe von Dieseltriebfahrzeugen. Aufgrund der alternden Flotte und der unsicheren Zukunftsperspektive des Dieseltreibstoffs machte sich die HVLE 2013 auf der Suche nach Alternativen, zumal die technische Entwicklung inzwischen so weit vorangeschritten war, dass „CoCo-Loks mit ‚vollwertigem‘ Diesel- und Elektroantrieb“ auf dem Markt waren.
2016 fiel die Wahl schließlich auf die Eurodual (BR 159), die von Stadler Rail im spanischen Valencia produziert wird. Im Februar 2020 erfolgte die Zulassung des Eisenbahn-Bundesamts (EBA), woraufhin Stadler die ersten drei der zehn bestellten Triebfahrzeuge auslieferte. Seit 2021 erfolgt der Regeleinsatz der Fahrzeuge, die inzwischen rund 2 Mio. Kilometer (Stand 11/22) Laufleistung absolviert haben.
2020 startete die HVLE darüber hinaus ein auf die BR 159 abgestimmtes Ausbildungsprogramm für Triebfahrzeugführer*innen (Tf), um von Beginn an betriebserfahrene Tf zur Verfügung zu haben. Seit Anfang 2022 erfolgen Tf-Erstausbildungen auf der Baureihe.
Wullstein betonte, dass die Anschaffung der BR 159 die richtige Entscheidung für die HVLE gewesen sei: Das Triebfahrzeug habe seine Leistungsfähigkeit (monatliche Verfügbarkeiten von 96 bis 100 Prozent) unter Beweis gestellt und sei für die Erstausbildung von Tf geeignet. Auch der Traktionswechsel während der Fahrt werde von den Tf als problemlos angesehen, sagte Wullstein und kam in diesem Zusammenhang auf eine Regelung der DB Netz AG (Aktualisierung 01 zur Ausnahme 238 der Richtlinie (Ril) 408) zu sprechen, die seit August 2020 Traktionswechsel lediglich im Stand erlaubt: Seine Bitte an die DB Netz AG sei, diese Regelung zu aktualisieren und einen Traktionswechsel im laufenden Betrieb wieder zu ermöglichen.
Internationaler Vergleich
Beim Thema innovative Antriebsarten größer und undogmatisch zu denken, empfahl im Anschluss Dr.-Ing. Lars Löwenstein, Senior Vizepräsident bei der Siemens Mobility GmbH. In den USA werde ein vierstelliger Milliardenbetrag in die Umstellung auf Wasserstoff investiert und es gebe so genannte Zwangs-Invests in innovative Antriebsarten, verdeutlichte Löwenstein die Dimensionen im internationalen Vergleich.
Es gehe nicht darum, den Diesel dogmatisch zu ersetzen, sondern „intelligent nachzuladen“. Letztendlich sei es egal, ob auf Elektrifizierung, Batterien oder Wasserstoff gesetzt werden: Es gehe um die Zusammenführung unterschiedlicher Technologien, sagte Löwenstein und appellierte: „Wir können einen Beitrag zur Verkehrswende leisten und vielleicht vor dem Automobil klimaneutral sein. Diese Chance sollten wir ergreifen.“
Sicherheitsanforderungen
Dr.-Ing. Jürgen Heyn und David Rumney vom TÜV Süd präsentierten schließlich einen „Vergleich betrieblicher Sicherheitsanforderungen von Fahrzeugen mit üblicher Antriebstechnik zu Fahrzeugen mit neuer Technik zur Energieumwandlung für die Traktion“.
Die beiden EBA-Gutachter lenkten die Aufmerksamkeit ihrer Zuhörenden auf die „maßgeblichen neuen Risiken“, die mit der Nutzung von batterie- und wasserstoffbetriebenen Triebfahrzeugen einhergehen: das „thermische Durchgehen inkl. Freisetzung toxischer Gase“ im ersteren und die Freisetzung von Wasserstoff inkl. „Entstehen einer explosionsfähigen Atmosphäre“ im letzteren Anwendungsfall.
Die Risikobeurteilung potenzieller Vorfälle müsse in die „Beherrschung des Fehlerszenarios“ münden, um zu einem tragfähigen Stör- und Notfallkonzept zu gelangen, das Personen- und Betriebssicherheit, aber auch den Sach- und Umweltschutz berücksichtige, verdeutlichten die Sicherheitsexperten in ihrem instruktiven Vortrag.
Chancen und Herausforderungen
In der anschließenden Podiumsdiskussion ging es dann zum Abschluss des ersten Veranstaltungstages um die „Chancen und Herausforderungen der neuen Energien“. Die Diskutanten auf dem Podium waren Professor Dr.-Ing. Arnd Stephan (Professur für Elektrische Bahnen an der TU Dresden und Geschäftsführer des Instituts für Bahntechnik), Detlef Müller (Bundestagsmitglied und SPD-Fraktionsvorsitzender Verkehr und Digitales), Dirk Menne (Leiter Eisenbahnbetriebsverfahren und Digitalisierung bei der DB Netz AG sowie Mitglied des Fachbeirats des EBL-Kongresses) und der bereits genannte Jürgen Heyn.
Einigkeit herrschte auf dem Podium darüber, dass das Tempo der Elektrifizierung viel zu gering sei (30 bis 60 Kilometer pro Jahr) und es weiterer politischer und wirtschaftlicher Anreize bedarf, diesen Zustand zu ändern. Elektrifizierung könne sehr wohl wirtschaftlich sein, müsse dafür aber in langfristigeren Horizonten gedacht werden, plädierte Stephan für einen anderen Zuschnitt für derlei Projekte: So sollte Elektrifizierung besser unter dem Aspekt der „Attraktivierung der Bahn“ gelabelt werden. Dirk Menne bekräftigte in diesem Zusammenhang aus der Netz-Perspektive, dass infrastrukturseitig sowohl im Kleinen (Regionalstrecken) als auch im Großen (Elektrifizierungslücken) Lösungen gefunden werden müssten. Und SPD-Politiker Müller betonte, dass man wieder dahin kommen müsse, neben wirtschaftlichen Kriterien auch andere wie den Klimaschutz und die Gemeinwohlorientierung berücksichtigen müsse.
Fehlende Auszubildende und Fachkräfte sowie das schlechte Image des Verkehrsträgers Schiene verschärften dabei das Umsetzungsproblem, in dem die Bahnbranche derzeit stecke – auch in diesem Punkt waren sich die Diskutanten einig. Dirk Menne verwies darauf, dass seiner Auffassung nach selbst beim Thema Klimaschutz in der Öffentlichkeit die Schlüsselrolle des Systems Bahn noch nicht hinreichend durchgedrungen sei. Und zum Thema Nachwuchskräfte sagte Stephan, dass zwar die Qualität der Ausbildung auf einem hohen Niveau, die Zahl an Nachwuchskräften aber viel zu gering sei: „Wir bilden super aus, aber viel zu wenige: Das liegt am schlechten Image, den Verspätungen und daran, dass wir nicht innovativ wahrgenommen werden“, sagte Stephan.
Nachwuchs- und Fachkräftemangel
Der Nachwuchs- und Fachkräftemangel war auch das Schwerpunktthema des zweiten Veranstaltungstages, den Dr. Ramona Schröder von der Bundesagentur für Arbeit Berlin-Brandenburg mit einem Vortrag eröffnete.
Schröder konstatierte zwar eine positive Beschäftigungssituation mit leicht ansteigenden Erwerbstätigenzahlen, durch den demographischen Wandel sei der Azubi- und Fachkräftemangel aber ein Problem. Insbesondere sei es inzwischen schwierig geworden, bei den Jugendlichen das Interesse an der dualen Berufsausbildung zu wecken, sagte Schröder. Unter dem Strich sei in Deutschland eine Nettozuwanderung von 400.000 Personen pro Jahr notwendig, und eine Fachkräftesicherung ohne Zuwanderung sei nicht möglich. Außerdem müsse die Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt erhöht und der Stellenwert der Berufsbilder im technisch-gewerblichen Bereich aufgewertet werden, ergänzte die Arbeitsmarkt-Expertin.
Neue Zielgruppen
Kai Mattusch, Leiter geförderte Bildung bei der Deutschen Bahn AG, betonte in seinem Vortrag, dass ohne Investitionen in die berufliche Weiterbildung das Problem des Fachkräftemangels nicht zu lösen sein werde. „Wir müssen uns Zielgruppen zuwenden, die wir vor einigen Jahren vielleicht noch nicht als potenziellen Nachwuchs im Auge hatten – was einen hohen Aufwand erfordert“, betonte Mattusch. So stünden derzeit 880.000 Menschen in Beschäftigungsverhältnissen, die aufgrund ihrer geringen Entlohnung Anspruch auf Leistungsbezüge hätten. Mit dem Bürgergeld könnten diese Menschen einen Anspruch auf Weiterbildung geltend machen, um ein festes und sicheres Beschäftigungsverhältnis zu erlangen. Das sei eine der angesprochenen Zielgruppen.
Außerdem werde die Digitalisierung in den kommenden Jahren das bestimmende Thema in der beruflichen Weiterbildung sein. Denn inzwischen sei nicht allein der Mangel an Nachwuchs- und Fach-, sondern auch an Lehrkräften deutlich zu spüren. „Fehlende Trainer und Lernbegleiter werden für eine Transformation der beruflichen Weiterbildung sorgen“, prognostizierte Mattusch.
Digitalisierung der Weiterbildung
Was das bedeuten kann, veranschaulichten Ariane Schipke und Pascale Vogelsang von DB Training in ihrem Vortrag: Im Rahmen eines Modellprojektes waren die beiden Bildungsexpertinnen an der Erstellung eines sogenannten Digitalen Zwillings des ICE 4 beteiligt, um den Einsatz digitaler Lernmedien in Instandhaltungstrainings zu erproben.
Das Ergebnis: Teilnehmende werden mit digitalen Lernmedien wie Digitale Zwillinge oder Virtual Reality besser auf das Praxistraining vorbereitet als mit herkömmlichen Lernmethoden. Die Praxis selbst aber können sie nicht ersetzen. Haptik und schnelle Handlungsabläufe, Temperaturen und äußere Einflüsse könnten in diesen Szenarien(noch) nicht abgebildet werden, zumal die Erstellung Digitaler Zwillinge derzeit noch viel Zeit und Geld erforderten, erklärten Schipke und Vogelsang.
Fazit und Exkursion
Gastgeberin Sylke Schmidt zog zum Abschluss ein positives Fazit zum 18. Kongress für Eisenbahnbetriebsleiter und Sicherheitsmanager von DB Training, Learning und Consulting und dankte insbesondere dem Beirat für die Zusammenstellung des fachlich wieder vorzüglichen Programms. Der nächste EBL-Kongress, so viel konnte sie bereits verraten, wird Mitte September in Nürnberg stattfinden.
Während die Online-Teilnehmenden noch in den Genuss zweier weiterer Vorträge kamen, begaben sich die Präsenz-Teilnehmenden zum Abschluss des EBL-Kongresses noch auf eine Fachexkursion: Mit einer Sonderfahrt ging es in die Hauptwerkstatt der Lausitz Energie Bergbau AG.
Lesen Sie auch:
Artikel als PDF laden