Das letzte Jahr war für uns Eisenbahner*innen bewegend. Es wird sicherlich nicht den Preis für die beste Betriebsqualität gewinnen. Aber das Jahr 2022 hat die Chance, eines der aufschlussreichsten zu werden, wenn wir die richtigen Schlüsse ziehen. Nach nunmehr rund drei Jahren im Ausnahmezustand ist es Zeit für einen Blick nach vorne.
Das Jahr 2022 begann aus Sicht der Bahn ordentlich. Die Pünktlichkeit war gut, das betriebliche Geschehen war trotz Winter beherrscht. Corona beschäftigte uns, klar, mit der Winterwelle und der 3G-Regelung am Arbeitsplatz. Das ist fast unwirkliche zwölf Monate her.
Mittlerweile kann man auf das letzte Jahr zurück-blicken. Es war ungewöhnlich bewegend, gerade für die Eisenbahn, und hat viele Zuschreibungen verdient:
- Es war das Jahr der schlechten Betriebsqualität. Das ist leider keine schöne Erkenntnis. Die Gründe zu kennen und darauf zu reagieren, ist wichtig. Es wird besser werden.
- Es war das Jahr, in dem der Krieg in der Ukraine begann, was uns als Bürger*innen und als Bahner*innen nach wie vor sehr bewegt. Wir als Bahn haben enorm angepackt.
- Es war das 9-Euro-Jahr mit einem Ticket, das vorher niemand zu denken gewagt hat. Das Ticket und dessen Nachfolge werden den Nahverkehr verändern.
- Es war ein Jahr, in dem Fachkräftemangel und personelle Engpässe auch für uns Eisenbahner*innen spürbar wurden. Wir müssen attraktiv bleiben, um leistungsfähig zu bleiben.
- Es war das Jahr, in dem der GSM-R-Umbau der Schienenfahrzeuge stattfand. Digitalisierung ist Zukunft und muss schneller gehen.
- Es war nach längerer Zeit wieder ein InnoTrans-Jahr. Die Bahnbranche ist innovativ, es ist eine kraftvolle Botschaft.
Die außergewöhnlich bewegten und bewegenden Zeiten bieten Raum für Erkenntnisse und Schlussfolgerungen. Ein Leitartikel gestattet eine Annäherung.
Bahn packt an und verbindet
Am 24. Februar 2022 begann ein Krieg auf europäischem Boden. Zwei Tage später hat die Deutsche Bahn entschieden, dass im Fernverkehr für Reisende mit ukrainischem Pass oder Personalausweis kein Fahrschein erforderlich ist. Daraus wurde später das Help-Ukraine-Ticket.
Am Berliner Hauptbahnhof, später in Cottbus und anderen großen Bahnhöfen, wurden die ersten Counter für Flüchtlinge eröffnet, Lagerung und Verteilung von Hilfsgütern organisiert und muttersprachliche Hilfe für Flüchtlingsfamilien abgesichert.
Wiederum wenige Tage später fuhr der erste Sonderzug von DB Regio bis zur polnisch-ukrainischen Grenze. Gemeinsam mit den Zügen der polnischen Staatsbahn und dem Fernverkehr wurden tausende Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet nach Polen und Deutschland gebracht. Nicht zu vergessen die Kolleg*innen der DB SEV GmbH, die normalerweise Schienenersatzverkehr organisieren, die mit bis zu fünfzig Bussen grenzüberschreitenden Verkehr aus Polen und die Verteilung in Deutschland sichergestellt haben.
Parallel wurde die Schienenbrücke für Hilfsgüter in die Ukraine aufgebaut, später dann die Getreidezüge aus der Ukraine organisiert.
Die wenigen Worte beschreiben nur unzureichend, mit wieviel Engagement und Hilfsbereitschaft die Eisenbahner*innen an den Bahnhöfen, in den Zügen, bei der Disposition angepackt haben. Wir können darauf stolz sein. Die Bahn-Familie kann wie keine andere Gruppe anpacken und verbinden.
Fahren und Bauen:
Generalsanierung in Korridoren
Das Bild von der Unentschiedenheit bei der Frage, ob man nun erst, dringlich, die Hühner fangen oder doch besser einen Zaun bauen solle, beschreibt ein bisschen die Situation beim Fahren und Bauen auf dem Netz.
Die Infrastruktur muss auf den hochbelasteten Strecken bestens gepflegt, stetig erneuert und bestenfalls ausgebaut werden. Während der Bauphase steht jedoch keine Kapazität fürs Fahren zur Verfügung – ausgerechnet dort, wo sie am dringendsten gebraucht wird. Also wurde in der Vergangenheit teils nur minimalinvasiv eingegriffen.
Das finanzielle Regime verstärkt diesen Effekt, weil verschiedene Finanzierungstöpfe für verschiedene Gewerke gewidmet und nicht zeitgleich verfügbar sind. Im Ergebnis wurde sequentiell gebaut.
Der Konflikt zwischen Fahren und Bauen ist grundsätzlich und an sich nicht auflösbar. Aber die klassische Lösung mit vielen kleinen Eingriffen, gestreckt über mehrere Jahre, wodurch ein unzureichender Zustand quasi manifestiert wurde, ist sicherlich nicht die beste gewesen.
Das letzte Jahr hat für dieses Thema einen echten Durchbruch gebracht: Generalsanierung in Korridoren ist ein vielversprechender Ansatz, der das Problem auf neue, tragfähige Weise löst. Der erste Korridor wird die Riedbahn sein. Wir wissen, was es verkehrlich bedeutet, die Riedbahn über mehrere Monate nicht befahren zu können.
In einem Schwung werden alle Gewerke im Korridor betrachtet, erneuert und in einen Zustand gebracht, der Stabilität und Qualität ohne weitere Eingriffe für die nächsten Jahre garantiert. Die Sperrung tut weh. Aber das ist es wert!
Schienenersatzverkehr wird neu gedacht
Während der Generalsanierung in einem Korridor kann ein Teil der Verkehre, die sonst über den Korridor fahren, Umleiterstrecken nutzen. Aber auch die werden irgendwann „voll“. Daher kann ein größerer Teil der Verkehre gar nicht über die Schiene fahren. Unsere Fahrgäste wollen trotzdem an ihren Zielort.
Für solche Fälle gibt es den Schienenersatzverkehr. Klar ist, dass für die Sanierung der großen Korridore der herkömmliche Schienenersatzverkehr nur bedingt geeignet ist. Allein das hohe Fahrgastvolumen und die größeren Entfernungen zwingen dazu, den „SEV“ neu zu denken. Wir tun das.
Stichworte der Neugestaltung sind Bahnhofsgestaltung (Reisendenlenkung, Bus-Parkplätze), Reisendeninformation und Komfort im Bus, Taktfrequenz und Linienkonzept, digitale Anbindung und Vernetzung mit dem ankommenden respektive abfahrenden Schienenverkehr.
Auch das gehört zu Lerneffekten aus dem letzten Jahr: Der Ersatzverkehr für die Schiene darf nicht mehr ein ungeliebtes, nötiges Hilfsmittel sein, sondern muss integraler Bestandteil der Mobilität werden. Dazu muss er performender werden und sich besser an den Bedürfnissen der Fahrgäste orientieren.
Fachkräfte sind existentiell
für unsere Systemfähigkeit
Im letzten Quartal des Jahres stiegen die Krankenstände deutlich, teils mehrere Prozentpunkte über dem Normalniveau. Peak-Werte gab es, regional unterschiedlich, im Dezember. Dies hatte an manchen Tagen zur Folge, dass Züge und Stellwerke nicht mehr zuverlässig besetzt werden konnten. Resultat war punktueller personalbedingter Ausfall von Leistungen auf der Schiene.
Dass die Verkehrsverlagerung auf die Schiene zwingend notwendig ist, hat uns das letzte Jahr mit Klima und Wetter erneut vor Augen geführt. Verkehrsverlagerung gelingt aber nur dann, klar, wenn auf der Schiene auch gefahren wird.
Wir brauchen dafür Fachkräfte. Das ist keine neue Erkenntnis. Deshalb hat die Deutsche Bahn vor Jahren schon eine Rekrutierungsorganisation aufgebaut, die zum Schlagkräftigsten zählt, was in der deutschen Industrie zu finden ist. Wir stellen jedes Jahr über 20.000 neue Personale ein. Eine großartige Leistung. Sie zeigt auch, dass das System Bahn attraktiv ist.
Neu ist die Erkenntnis, dass das nicht reicht. Es reicht nicht, immer neue Personale nachzuführen. Wir müssen mehr für die Bindung der Fachkräfte und Personale sorgen, die schon bei uns arbeiten.
Damit einher geht auch eine weitere Erkenntnis: Das ist keine „Personaleraufgabe“. Es ist eine gemeinsame Aufgabe jeder Organisation und Führungskraft. Vor allem wir „Betriebler“ sind beim Thema Mitarbeitenden-Bindung gefordert.
Digitalisierung muss schneller gehen
Im letzten Jahr wurden mehrere tausend GSM-R-Endgeräte „gehärtet“ bzw. die entsprechenden Anlagen störfest umgerüstet, um im Zusammenspiel mit den Mobilfunkunternehmen die künftige Mobilfunkversorgung an den Schienenwegen deutlich zu verbessern. Zieldatum, von der Bundesnetzagentur gesetzt, war der 31. Dezember 2022.
Kurz vor Ende des Jahres kam die Nachricht, dass der Endtermin verschoben wird – um rund zwei Jahre auf Ende 2024. Hintergrund sind rund 1.000 Fahrzeuge (von 13.000 Fahrzeugen), die noch nicht zum Stichtag letztes Jahr umgerüstet waren.
Wir sitzen zuweilen selbst im Glashaus, daher soll hier nichts missverstanden werden. Das Beispiel nützt als Exempel für einen grundsätzlichen, aber dringlichen Appell: Die weitere Digitalisierung des Systems Bahn ist nötig. Wir brauchen die Kapazität, die dadurch entstehen kann. So schnell es geht. Die Geschwindigkeit darf aber nicht durch die Langsamen bestimmt werden. Wir brauchen Anreize für raschere Digitalisierung.
Nahverkehr anders gedacht: Ideenzug
Kapazität und Komfort sind zwei Ziele im Schienenverkehr, die normalerweise nicht zusammenpassen. Entweder gibt es Züge wie in den Metro-Systemen: Minimale Sitzplätze, kaum Sitzkomfort, während der Stoßzeiten stehen die Fahrgäste dichtgedrängt. Oder es gibt die Regionalexpress- oder Fernverkehrszüge: Großer Sitzplatzkomfort, wenige Stehplätze.
Die heutigen S-Bahnzüge sind irgendwo dazwischen: Gepolsterte Sitzplätze mit hohem Vis-a-Vis-Anteil, aber auch viele Stehplätze. Diese leider ausgerechnet in den Einstiegsbereichen.
Wie verbindet man Komfort und Kapazität? Wie können Ein- und Ausstieg so gestaltet werden, dass es rasch geht und die Fahrgäste vorher Orientierung bekommen? Zum Beispiel vor dem Austeigen schon wissen, wo die Rolltreppe ist. Dann bleiben sie nicht stehen und blockieren den Fahrgaststrom. Oder umgekehrt, am Bahnsteig schon wissen, welche Wagen noch freie Kapazität haben. Dann können sie sich direkt richtig positionieren.
Der IdeenzugCity gibt viele Antworten. Auf der InnoTrans 2022 war der Ideenzug eines der „Muss ich gesehen haben“-Themen. Er steckt voller Innovationen, Nahverkehr komplett anders gedacht. Beispielsweise durch intelligente Displays in den Fenstern. Durch innovative Sitzlandschaften, die sich zur Hauptverkehrszeit „einklappen“ und Platz für Stehplätze machen. Oder durch neuartige Stehsitze.
Zuletzt gewann der IdeenzugCity den German Innovation Award in „Gold“. Und erste Elemente aus dem Ideenzug, zum Beispiel Lounge-Sitzlandschaften oder Auslastungsanzeigen, sind bereits Realität.
Nahverkehr anders gedacht: Deutschlandticket
Eine der großen Neuerungen im letzten Jahr war das 9-Euro-Ticket. Es war nicht nur innovativ, es war auch disruptiv und hat uns alle ordentlich aufgerüttelt. Ein Ticket für den Nahverkehr in ganz Deutschland zu einem Preis. Davon haben vorher nur die Mutigen geträumt.
Die 9-Euro-Zeit hat in den drei Monaten vieles offenbart und wie durch ein Brennglas vergrößert. Die Erkenntnisse aus dieser Zeit sind daher besonders aufschlussreich, im Folgenden sind einige aufgeführt.
Erstens, ein einheitliches Ticket ist für den Nahverkehr ein Erfolgsmodell. Das wird sich erneut bei der Nachfolge zeigen. Wir möchten, dass das Deutschlandticket rasch kommt. Fahrgäste finden Nahverkehr attraktiv und steigen um, wenn es einfach und preiswert ist.
Zweitens, das System Bahn braucht Zeit zum Wachsen. Das 9-Euro-Ticket kam zu plötzlich, wir konnten nicht mitwachsen und wurden teils überrannt. Das führte zu einer großen Belastung der Personale in den Zügen und den Leitstellen. Sie haben Großartiges geleistet.
Drittens, der Einsatz von Doppelstock-Fahrzeuge ist auf hochbelasteten Linien, zum Beispiel touristischen Verkehren, das zukunftsfähigere Konzept. Nicht nur, dass der „DoSto“ bei gleicher Bahnsteiglänge mehr Kapazität für Fahrgäste bietet, auch das Thema Fahrräder ist besser handhabbar.
Viertens, die Organisation des Geschehens am Bahnsteig ist essentiell für eine stabile Betriebsqualität. Das war schon aus der Zeit des Corona-Lockdowns bekannt – nur umgekehrt. In Stoßzeiten, zum Beispiel während der Hauptverkehrszeiten oder an Tagen mit großem Fahrgastaufkommen, oder an bestimmten Bahnhöfen, zum Beispiel für Ausflugsverkehre, sind Reisendenlenker*innen, Einstiegslotsen oder Fahrradhelfer*innen unerlässlich. Diese Konzepte müssen für das Deutschlandticket verstetigt und entsprechend von den Aufgabenträgern bestellt werden.
Schlussfolgerungen und Blick nach vorne
Insgesamt erleben wir außergewöhnlich bewegte und bewegende Zeiten. Trotz der Turbulenzen bleiben zunächst einige Gewissheiten:
- Mobilität ist und bleibt ein Grundbedürfnis. Denn Menschen arbeiten beispielsweise nicht dort, wo sie wohnen. Oder sie wollen Geschäftspartner in anderen Städten treffen, sie wollen reisen, einkaufen, zu ihren Freunden und Verwandten.
- Rohstoffe werden nicht dort abgebaut, Güter nicht dort produziert, wo sie verbraucht werden.
- Die Klimakrise ist existentiell und spürbar „da“.
- Mobilität und Klimakrise ergeben in Verknüpfung zwingend eine Verkehrsverlagerung auf die Schiene.
- Das System Bahn ist die Lösung dafür. Die Starke Schiene ist die richtige, tragfähige Strategie.
Es ist die Zeit der Erkenntnisse. Sie ergänzen die Gewissheiten. Im Kern steht die Leistungsfähigkeit des Systems Bahn:
- Wir brauchen ausreichende personelle Verfügbarkeit. Mitarbeitendenbindung wird künftig noch wichtiger und ist eine Aufgabe für uns alle.
- Wir brauchen mehr Robustheit im System, damit wir auf wachsende Bedarfe reagieren können. Auf der Ressourcenseite sind das die richtigen Fahrzeuge, größere Fahrzeugreserven, ausreichend Instandhaltungskapazitäten, genügend Ersatzteile in der Vorhaltung. In den betrieblichen Prozessen brauchen wir fahrbare Fahrpläne und gut dimensionierte Wendezeiten.
- Digitalisierung und Automatisierung – im Betrieb, in der Bereitstellung, in den Flotten und in der Instandhaltung – müssen schneller kommen, damit unser System Bahn eine leistungsfähige Lösung für die Verknüpfung von Mobilität und Verkehrswende bleibt.
- Innovationen und Mut, herkömmliche Konzepte neu zu denken, sind erforderlich: Generalsanierung in Korridoren, Ideenzug, neuer Schienenersatzverkehr – das sind Konzepte, wo wir heute schon etwas erfolgreich anders machen, damit es künftig besser wird.
Wir sind Teil der Lösung. Die Bahn-Familie ist unschlagbar kraftvoll. Auf uns kommt es an. Das sind sicher die wichtigsten Erkenntnisse.
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