Ein digitaler Zwilling ist ein detailliertes virtuelles Abbild eines Produktes, einer Anlage oder eines Prozesses und die Basis für Anwendungen der Industrie 4.0. Rolf Härdi arbeitet als CTIO der Deutschen Bahn mit seinem Team an der Umsetzung der Digital- und Technikstrategie, in welcher der Digital Twin als ein zentrales Fundament für die Zukunft der Schiene entwickelt wird. Mit Deine Bahn sprach Rolf Härdi über das Vorgehen und den Nutzen dieses Ansatzes.
Deine Bahn: Welchen Ansatz verfolgt die Deutsche Bahn hinsichtlich des Themas Digital Twin?
Rolf Härdi: Der Digital Twin ist für uns ein wichtiger Entwicklungsbaustein in der Umsetzung der Digital- und Technikstrategie und somit eine Schlüsselfunktion der „Starken Schiene“. Auf seiner Basis werden wir Schritt für Schritt ein virtuelles Abbild der Deutschen Bahn erhalten – mit allen relevanten Komponenten, Akteuren, Einflussfaktoren und Beziehungen. Basierend auf diesem umfassenden Wissen und der daraus resultierenden Möglichkeit Szenarien zu simulieren, sind wir in der Lage, Schwachstellen im System zu erkennen, Optimierungen zu evaluieren und somit signifikante Leistungsverbesserungen zu erarbeiten. Dadurch erhöht sich die Verfügbarkeit und Wirtschaftlichkeit unserer Assets und in der Folge verbessert sich unser Service für die Kunden. Mehr Kundenzufriedenheit und Kundenservice sind zwei der wichtigsten Ziele der „Starken Schiene“.
Um diese Vision nicht erst in ferner Zukunft, sondern jetzt zu realisieren, baut unsere Digital Twin-Strategie auf den bestehenden technischen Möglichkeiten auf und entwickelt diese konsequent weiter. Heutige Fahrzeuge besitzen bereits ein breites Spektrum von Sensorik und Intelligenz, welches oft nur minimal genutzt wird. Unser Ansatz ist es, in enger Partnerschaft mit dem Sektor die bestehenden technischen Möglichkeiten zu erschließen und gemeinsam weiterzuentwickeln.
Warum ist der Digital Twin für die Deutsche Bahn so wichtig?
Mit Digital Twins können sowohl Gegenstände, Personen als auch Prozesse digital beschrieben und abgebildet werden. Sie sind damit digitale Repräsentanten von Dingen aus der realen Welt und stellen verschiedene Informationen in einem verständlichen und weiterverarbeitenden Format bereit. Auch wenn dies technisch vielfach eine Herausforderung darstellen mag, ist es der Schlüssel zum Erfolg. Nur durch einen übergreifenden Informationsaustausch zwischen unterschiedlichen Bereichen, Partnern und Lieferanten wird der Digital Twin sein Potenzial ausspielen können.
Der Digital Twin bietet neben den Daten auch Algorithmen, Simulationen und weitere Services, um vergangene, aktuelle oder zukünftige Eigenschaften und Verhaltensweisen des repräsentierten Objekts zu beschreiben und auch zu beeinflussen.
So kann beispielsweise der Digital Twin eines Schienenfahrzeugs das Verhalten in unterschiedlichen Situationen voraussagen und vorausschauende Analysen fahren und Instandhaltungsszenarien simulieren, aufgrund derer wir unsere Abläufe optimieren können. Somit hat der Digital Twin für uns grundsätzlich immer das Ziel, den „Business Outcome“ zu optimieren.
Welche konkreten Mehrwerte lassen sich durch den Einsatz von digitalen Zwillingen innerhalb der DB realisieren?
Selbstverständlich möchten wir primär das Kundenerlebnis verbessern. Für den Digital Twin ist daher die Echtzeit-Überwachung von Zugkomponenten und die Anbindung von unterschiedlichsten Mess- und Diagnosesystemen wichtig. Aber auch Systeme wie beispielsweise sogenannte „Wayside Monitoring“-Anlagen, die Fahrzeugzustände von außen erkennen, liefern wichtige Daten an den Digital Twin. Durch die Analyse und Auswertung der Daten ist der Digital Twin in der Lage, eine prädiktive Instandhaltung zu fördern und Störungen von Zugkomponenten vorauszusagen. Der Zug kann dadurch bedarfsorientiert gewartet werden.
In der Disposition wird der Digital Twin ebenfalls eine wichtige Rolle einnehmen. Entscheidungen für die Disposition des Zuges werden zukünftig vermehrt auf Basis von Simulationen mit Betriebsdaten und Künstlicher Intelligenz (KI) getroffen. Die Systeme sind zudem in der Lage, Störungen im Betriebsablauf in Echtzeit zu erfassen und diese in die Modelle einfließen zu lassen. Auf diese Weise können Dispositionen automatisch und unmittelbar an neue Gegebenheiten angepasst werden.
Wie ist die Herangehensweise?
Mit dem Aufsetzen und Umsetzen der Digital- und Technikstrategie und dem darin enthaltenen Baustein Digital Twin als einem wesentlichen Treiber haben wir die Basis geschaffen. Unser konzernweites Umsetzungsprogramm „TecEx“ hat uns in den letzten drei Jahren wichtige Erkenntnisse und Grundlagen geliefert. Unser neues Programm „Digitale Instandhaltung“ wird ein wichtiger Motor zur Weiterentwicklung sein. Unser fundiertes und breites internes Wissen, das wir über die DB Systel auf der IT-Seite, die DB Systemtechnik auf der Bahntechnikseite, aber auch durch das Digitale Schiene Deutschland-Team und den Kolleg*innen der Eisenbahnverkehrsunternehmen und Konzernbereiche zur Verfügung haben, ermöglicht es uns, derartig technologisch anspruchsvolle Projekte umzusetzen und auf Augenhöhe mit Industrie und Wissenschaft zu agieren.
Eine erfolgreiche Digitalisierung erfordert eine offene und agile Herangehensweise. Mit einer Vielzahl von im Konzern verteilten Digitalisierungsprojekten entwickeln wir unsere Vision hin zu einem klar definierten Zielbild. Zur Förderung der thematischen Kollaboration und des kreativen Austauschs haben wir die Digital Twin-Community ins Leben gerufen. Neben dem Informationsaustausch innerhalb des Unternehmens suchen wir auch aktiv das Gespräch und die Zusammenarbeit mit anderen Unternehmen und Forschungseinrichtungen. Wir freuen uns bereits über zahlreiche Partnerschaften mit OEMS (Original Equipment Manufacturer, übersetzt Originalausrüstungshersteller) und Systemlieferanten, aber auch mit namhaften deutschen Universitäten und Betreibern aus der ganzen Welt.
Darüber hinaus hat uns die Erstellung einer umfassenden Trendstudie zum Thema Digital Twin bei der Erarbeitung eines gemeinsamen Verständnisses geholfen und wichtige Sichtweisen aus der Industrie und Praxis herausgearbeitet.
Die strategische Ausgestaltung des Einsatzes digitaler Zwillinge erfordert eine Art holistischen Ansatz. Über die Umsetzung von sogenannten Leuchtturmprojekten wollen wir die ganzheitliche Betrachtung fördern und Grundsätze etablieren, um Grundsteine für Folgeinitiativen zu legen. Ein IoT-Leuchtturmprojekt muss zu einer Blaupause mit Sogwirkung werden. Kunden, Partner und Stakeholder müssen den allgemeinen Nutzen sowie die eigenen Vorteile verstehen – direkt oder indirekt. Dafür haben wir den Fokus zum Beispiel beim Fahrzeug zunächst auf die Zugkomponenten Klimaanlage, Türsysteme und Drehgestelle gelegt, um den sogenannten „Digital Train Twin“ zeitnah umzusetzen.
Mit dem „Digital Train Twin“ stellen wir die Weichen für die Operationalisierung der Digital Twin-Strategie zur Schaffung eines vernetzten Bahnsystems. Die Koordination und Steuerung des Leuchtturmprojektes erfolgt agil, wodurch regelmäßige Abstimmungsformate ein Höchstmaß an Transparenz und Nähe zu allen Projektbeteiligten schaffen.
Was ist Ihnen besonders wichtig?
Wie eingangs beschrieben, ist ein wichtiges Merkmal des Digital Twins der übergreifende Informationsaustausch. Dabei meinen wir nicht nur den Austausch von Sensorinformationen und Daten. Vielmehr geht es um das Zusammenwirken von Fahrzeugen, Instandhaltungswerken, Lieferanten und insbesondere Partnern des Systems Bahn.
Aus diesem Grund arbeiten wir zum Beispiel sehr eng mit Herstellern von Fahrzeugen und Fahrzeugkomponenten zusammen. Eine erfolgreiche Zusammenarbeit erfordert Offenheit und viel genseitiges Vertrauen. Hier sind wir seitens der Deutschen Bahn wie auch seitens der Industrie gefordert, dieses Vertrauen zu erarbeiten. Die ersten Erfahrungen sind sehr positiv und motivierend. Ich bin mir sicher, dass wir als Sektor die gemeinsame Chance erkannt haben.
Darüber hinaus haben wir weitere Forschungsprojekte gezielt zur Weiterentwicklung bestehender Komponenten begonnen, um diese im Sinne des Digital Twins und der übergreifenden Vision zu entwickeln. Dank des langjährigen Austausches mit verschiedenen Hochschulen haben wir zudem eine hochmotivierte akademische Unterstützung, die für ein so junges Thema eine großartige Möglichkeit ist, gezielt wissenschaftliche Arbeit und Praxis miteinander zu verbinden.
Was ist neuartig an dieser Zusammenarbeit?
Der Digital Twin bringt Bereiche und Unternehmen zusammen. Er zeigt eine Vision auf, wie die Welt von Morgen aussehen kann. Alle Beteiligten teilen dieses Bild und leisten ihren Beitrag. Dabei stehen alle Beteiligten vor den üblichen Herausforderungen, die die Digitalisierung mit sich bringt. Jedoch sind auch alle Beteiligten offen und veränderungsbereit, weil sie die riesige Chance erkannt haben und die digitale Welt von Morgen schaffen wollen.
Welche Herausforderungen sehen Sie bei der Umsetzung von Digital Twins?
Die Entwicklung von Digital Twins hat viele Facetten. Hierbei denke ich nicht nur an die technischen Herausforderungen. Vielmehr müssen auch Prozesse und Regelwerke verändert werden. Das erfordert die Einbindung und Abstimmung vieler Personen und ist häufig auch sehr zeitaufwändig.
Was raten Sie anderen Unternehmen in Bezug auf den Digital Twin?
Es gibt keine Digital Twin-Lösung, die Sie fertig kaufen können. Der Digital Twin ist ein lebendes Objekt, genauso wie das reale Gegenstück. Es muss wachsen, permanent entwickelt und gepflegt werden sowie sich wechselnden Anforderungen und Ansprüchen anpassen. Seien Sie offen und suchen Sie aktiv den Dialog mit anderen Unternehmen, Partnern und Institutionen. In Zukunft werden der Austausch von Daten und die Bereitstellung von digitalen Services basierend auf KI und Simulationsmodellen der Schlüssel zum Erfolg sein. Diese Kommunikation wird in der Cloud stattfinden. Der Digital Twin ist unsere Antwort auf diese Zukunftsthemen.
Rolf Härdi ist seit August 2017 CTIO bei der Deutschen Bahn. Härdi kommt aus der Bahnindustrie. Nach seinem Elektrotechnik- Studium an der ABB-Technikerschule folgte ein MBA an der Nottingham University Business School. Vor seinem Wechsel zur Deutschen Bahn war Härdi unter anderem Mitglied der Geschäftsführung bei der Knorr-Bremse AG, CEO der Sersa Group, Vice President Engineering bei Bombardier Transportation Propulsion and Controls und in verschiedenen leitenden Positionen bei ABB tätig.
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