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Zusammenarbeit im Bahnsektor

Beschaffung und Inbetriebnahme von Eisenbahnfahrzeugen im interkulturellen Kontext

Züge am BAhnstein in Lübeck Hbf
Foto: DB AG/Uwe Miethe

Der Beitrag beleuchtet im Zeitraffer den langen Weg von der Erstellung der Lastenhefte bis zur Inbetriebnahme von Fahrzeugen internationaler Hersteller. Dabei werden die aus Sicht eines Eisenbahnverkehrsunternehmens wichtigsten Fachaufgaben zusammengeführt und ein Schwerpunkt in der Auseinandersetzung mit der kulturellen Unterschiedlichkeit auf Arbeitsebene gesetzt.

Das gemeinsame Agieren von Menschen mit unterschiedlicher Sozialisation spielt in einer globalisierten Welt eine immer wichtigere Rolle. Die daraus resultierende Auseinandersetzung mit der interkulturellen Zusammenarbeit wird aktuell in der Literatur und der Praxis umfangreich behandelt. Dabei nimmt die grundsätzliche Bestimmung des Begriffs Kultur eine starke Bedeutung in diesem Diskurs ein. So wird beispielsweise häufig Kultur als Ergebnis menschlicher Handlungen beschrieben, die sich wiederum gleichzeitig direkt auf menschliches Handeln auswirkt. „So kann eine Situation oder Handlung aufgrund des Einflusses von Kultur von zwei Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen unterschiedlich interpretiert werden.“[1]

Mit Blick auf die vielschichtigen Herausforderungen der im Wandel befindlichen Mobilitätsbranche ist auch hier zukünftig ein deutlich erhöhter Bedarf an inter­kultureller Zusammenarbeit zu erwarten. Dies gilt gerade für umfangreiche und komplexe Projekte wie zum Beispiel die Beschaffung von Eisenbahnfahrzeugen. Eisenbahnverkehrsunternehmen partizipieren hier an einer fortschreitenden Internationalisierung des Fahrzeugherstellermarktes. Auftretende Reibungsverluste im Rahmen der interkulturellen Zusammenarbeit gilt es frühzeitig zu erkennen und idealerweise die Unterschiedlichkeit nutzbringend zu kanalisieren.

Bei der Beschaffung von Eisenbahnfahrzeugen ist eine erfolgsentscheidende Rahmenbedingung die vorgegebene Projektlaufzeit. Unvorhergesehene Verlängerungen der Projekte ziehen meist einen Verlust an Reputation und schlussendlich auch vielfach finanzielle Konsequenzen nach sich. Insgesamt gliedert sich die Projektlaufzeit hierbei grundsätzlich in vier Phasen auf:

  • Beschaffungsphase
  • Konstruktionsphase
  • Fertigungs- und Zulassungsphase
  • Inbetriebnahme

Beschaffungsphase

Bedarfsanalysen zum Erkennen der Notwendigkeit einer Beschaffung von neuen Eisenbahnfahrzeugen gehen meist einher mit Industriegesprächen. Spätes­tens im Zuge von konkreten Verhandlungen zu den betrieblichen und kommerziellen Rahmenbedingungen wird ein direkter und persönlicher Kontakt der Verhandlungsführer erforderlich.

Verhandlungen enthalten dabei „ein Paradoxon, nämlich die Gleichzeitigkeit von Konfrontation und Kooperation. Wenn es keine Konfrontation gäbe, wäre die Verhandlung nicht nötig. Wenn die Parteien nicht willens wären, zu kooperieren, würden sie erst gar nicht versuchen, unterschiedliche Interessen auszugleichen oder Differenzen durch Kommunikation auszuräumen.“ Verhandlungen finden daher „immer in einem Verhandlungskontext statt. Ort, Zeitpunkt, Anlass und Vorgeschichte prägen die Verhandlung. Im internationalen Umfeld wirken durch die jeweiligen kulturellen Biografien der Verhandelnden kulturspezifische Normen, Werte und Regeln auf den Verhandlungsprozess ein.“[2]

Wenn auch nicht der einzige Faktor, so ist der Umgang mit der der kulturellen Unterschiedlichkeit ein wichtiger Erfolgsfaktor bei Verhandlungen mit internationalen Partnern. In der Literatur werden dazu kulturelle Profile beschrieben und zur Bestimmung dieser kulturellen Profile verschiedene Einflussfaktoren definiert. Hier finden sich im Wesentlichen vier Dimensionen als Haupteinflussfaktoren:[3]

  • Sachorientierung steht Orientierung in ­Beziehungen gegenüber,
  • formelles Agieren steht informellem Agieren gegenüber,
  • direkte Kommunikation steht indirekter ­Kommunikation gegenüber,
  • Umgang und Verständnis von Zeit.

Das Einstudieren und der Umgang mit den wichtigsten Details der kulturellen Gegensätze ist für größere und komplexe Verhandlungen, wie sie zur Beschaffung von Eisenbahnfahrzeugen notwendig sind, sicher erforderlich. Der Verhandlungsprozess gleicht dabei eher einem Marathon als einem Sprint, was in der Zeitplanung unbedingt zu berücksichtigen ist. So ist, abgeleitet aus langjähriger Erfahrung im Flottenmanagement, eine Verhandlungsphase für die Beschaffung von Eisenbahnfahrzeugen im internationalen Umfeld von 18 Monaten (Zeitraum vom Erkennen Bedarf über Erstellung Lastenhefte bis Abschluss Liefervertrag) nicht ungewöhnlich.

Konstruktionsphase

Eisenbahnverkehrsunternehmen, die stark kapitalgebundene Fahrzeuge beschaffen, haben in jeder Projektphase ein großes Interesse, Projektrisiken zu minimieren. Als Auftraggeber überwachen sie die Konstruktion, die Fertigung und die Zulassung der Eisenbahnfahrzeuge. Die so entstehende Qualitätssicherung dient dazu, Risiken für einen Lieferverzug oder für eine unzureichende Verfügbarkeit im späteren Betrieb zu vermeiden. Für den Fall, dass der Fahrzeughersteller auch die Zulassung der Fahrzeuge erwirken soll, gelten besondere Anforderungen an die Qualitätssicherung.

Basis für die umfangreiche Qualitätssicherung sind Qualitätsprüfpunkte, die als Meilensteine in den verschiedenen Projektphasen fixiert werden und an denen „der Auftraggeber die vom Auftragnehmer bis zu diesem Zeitpunkt zu erbringenden Lieferungen und Leistungen in Form eines Soll-/Ist-Abgleichs misst und hinsichtlich ihrer Qualität und Vollständigkeit bewertet.“[4]

Sollten im Rahmen der Qualitätssicherung Gegeben­heiten festgestellt werden, die eine zeitliche Verzögerung des Projektes nach sich ziehen, können kulturelle Unterschiede die Situation weiter erschweren. Dabei wirkt sich auf direkter Arbeitsebene die jeweilige Sozialisation der handelnden Personen unmittelbar aus. Beispielsweise gilt dies, wenn eine eher planungsorientierte Perspektive (Planungen werden wichtiger als Handlungen eingeschätzt) auf eine eher handlungsorientierte Perspektive trifft (Handlungen werden wichtiger als Planungen eingeschätzt).

Das tägliche Agieren der Projektbeteiligten in der kritischen und hochkomplexen Projektphase wird durch diese kulturelle Divergenz stark beeinflusst. Abbildung 1 stellt das Verhältnis zwischen Handlung und Planung jeweils für die Gruppe der planungsorientierten und für die Gruppe der handlungsorientierten Personen in Abhängigkeit der Projektkomplexität dar. Dabei ergibt die Summe aus den jeweiligen Anteilen für Planung und Handlung stets 100 Prozent.

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Abbildung 1: Verhältnis von Handlung und Planung in der Projektarbeit (Quelle: Ingo Heinrich)

Bei weniger komplexen Projekten ist die Divergenz zwischen beiden Gruppen vernachlässigbar. Mit steigender Komplexität steigt auch die Verschiedenheit. Bei höherer Komplexität und in Drucksituationen neigt die eine Gruppe vermehrt zur Handlungsorientierung und die andere Gruppe überwiegend zur Planungs­orientierung. Die Verhaltensmuster der Projektbeteiligten deuten dabei sicher auch auf die jeweiligen unternehmerischen Vorgaben hin. Inwieweit diese Vorgaben Ursache oder Folge eines kulturellen Unterschieds sind, ist als eine Art Henne-Ei-Problem auch in weiteren Untersuchungen stark von einer interpretativen Sicht abhängig. Die ideelle Betrachtungsweise in Abbildung 1 deckt sich mit ersten statistischen Auswertungen des Autors dieses Beitrags.[5] In hochkomplexen Projekten schätzen handlungsorientierte Teilnehmer den Ressourcenaufwand für die Entwicklungsarbeit auf 55 Prozent des Gesamtaufwands und damit niedriger ein als planungsorientierte Teilnehmer, die von einem entsprechenden Bedarf in Höhe von knapp 64 Prozent ausgehen.

Fertigungs- und Zulassungsphase

Das Handbuch Eisenbahnfahrzeuge gibt für den formalen und prozessualen Ablauf zur „Herstellung und Zulassung von neuen beziehungsweise umgebauten Eisenbahnfahrzeugen“ für den Zeitraum von Beginn der Konstruktionsphase bis zum Start der Serienfertigung umfangreiche Handlungsempfehlungen zum zeitlichen Ablauf der verschiedenen Projektphasen. Es „stellt einen Leitfaden für alle an der Zulassung von Eisenbahnfahrzeugen beteiligten Parteien […] dar und hat empfehlenden Charakter.“[6]

Beispielsweise wird für die Neuentwicklung eines Triebwagens ein Zeitbedarf von 24 bis zu 36 Monaten von der Vertragsunterzeichnung bis zum Start der Serien­fertigung angegeben. Für eine exemplarische Flotte von 40 Triebwagen würde die Serienfertigung unter den Annahmen des Handbuchs Eisenbahnfahrzeuge 16 Monate in Anspruch nehmen. Die Gesamtprojektlaufzeit würde somit für dieses Beispiel in der Summe zwischen 52 (24 + 12 + 16) und 64 Monaten (36 + 12 + 16) betragen. Abbildung 2 illustriert die Zusammenhänge und den Zeitbedarf für die Fertigung und Zulassung von neuentwickelten Eisenbahnfahrzeugen.

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Abbildung 2: Zeitbedarf für die Neuentwicklung am Beispiel eines Triebzuges (Quelle: BMVI 2011)

Im Zuge von Wettbewerbsverfahren im Schienen­personennahverkehr (SPNV)[7] mit geforderten Neufahrzeugen wird in den entsprechenden Verdingungsunterlagen im Mittel ein Zeitraum von etwa 37 Monaten[8] von der Vertragsunterzeichnung bis zur Inbetriebnahme der gesamten Flotte angesetzt.

Für den Fall von Neuentwicklungen liegen die zeitlichen Vorgaben der Aufgabenträger bei diesen Verfahren also sehr deutlich unter den Empfehlungen aus dem Handbuch Eisenbahnfahrzeuge. Damit wird aufgabenträgerseitig scheinbar unterstellt, dass im Mittel die zu beschaffenden Neufahrzeuge nicht neu entwickelt werden sollen und somit auch nicht der zeitintensive Prozess der Bauart-Entwicklung durchlaufen wird. Vielmehr wird eine sogenannte Delta-Entwicklung auf Basis bereits zugelassener Eisenbahnfahrzeuge erwartet.

Für eine Beispielflotte von 40 Triebwagen wären in diesem Fall, nach den Vorschlägen des Handbuchs Eisenbahnfahrzeuge, für den Zulassungs- und Inbetrieb­nahmeprozess sowie die Serienfertigung lediglich zwischen 34 Monaten und 40 Monaten notwendig.[9] Der Mittelwert des in den Verdingungsunterlagen von SPNV-Wettbewerbsverfahren angesetzten Zeitbedarfs von etwa 37 Monaten passt somit sehr gut zu den Vorgaben des Handbuchs für eine Delta-Zulassung.

Der Übergang zwischen der Konstruktionsphase und der Fertigungs-/Zulassungsphase verläuft in den meisten Fällen fließend. Während der Zulassungs­prozess mit all seinen Tests an und mit den Musterfahrzeugen läuft, startet parallel ein Teil der Serienfertigung. Sollte der Bedarf an einer Nacharbeitung in der Konstruktionsphase bestehen, hat dies unmittelbar Auswirkung auf die Fertigungsphase. Dies gilt umso mehr für Projekte im interkulturellen Kontext. Deshalb nimmt in der gesamten Zeitplanung der Fertigungs- und Zulassungsphase die Auseinandersetzung mit der kulturellen Unterschiedlichkeit mindestens eine ebenso wichtige Rolle ein wie in der Beschaffungs- und Konstruktionsphase.

Inbetriebnahme

Die Einführung von neuen Eisenbahnfahrzeugen bedeutet häufig auch eine Neu- oder Umgestaltung betrieblicher Serviceanlagen. Beispielsweise müssen in den Instandhaltungswerkstätten Anlagen zum Anheben der Fahrzeuge genauso passend für die neuen Fahrzeuge dimensioniert werden, wie die entsprechenden Dacharbeitsbühnen. Für Verbrennungs­triebwagen bestehen außerdem besondere Anforderungen bei der Betankung und bei der externen Versorgung mit elektrischem Strom in der Abstellung.

Die Erstellung der für den Betrieb notwendigen Serviceanlagen erfordert einen auskömmlichen zeitlichen Vorlauf für die Planung und Genehmigung sowie für den eigentlichen Bau der Anlagen. Sind bei der Einführung von neuen Eisenbahnfahrzeugen Aufgaben zu ­erledigen, die in ihrer Reihenfolge aufeinander aufbauen, können Abhängigkeiten von der einen Aufgabe zur nächsten Aufgabe entstehen. Zum Beispiel kann eine Hebeeinrichtung nur sachgerecht dimensioniert werden, wenn die zu hebenden Gewichte bekannt sind.

Kulturell geprägte Herangehensweisen der Akteure können zu Reibungsverlusten führen

Sind an diesen Schnittstellen der voneinander abhängigen Aufgaben Projektteilnehmer mit einer handlungsorientierten Perspektive auf der einen und Projektteilnehmer mit einer eher planungsorientierten Perspektive auf der anderen Seite, so führt dies un­weigerlich zu hinreichend großen Reibungsverlusten.

Für die ersten Monate der Betriebsaufnahme werden häufig zwischen Fahrzeughersteller und Fahrzeughalter Vereinbarungen getroffen, die den Umgang mit außerplanmäßigen Ausfällen der beschafften Eisenbahnfahrzeugen regelt (vgl. Heinrich 2017).[10]
Diese Gewährleistungsphase wird bei Inbetriebnahmen im interkulturellen Kontext geprägt von der Zusammenarbeit der handelnden Mitarbeiter (Fahrzeughalter, Fahrzeughersteller, Zulieferer) mit unterschiedlicher Sozialisation. Insofern spielen auch in dieser Projektphase die interkulturellen Aspekte eine wichtige Rolle auf dem Weg zum Projekterfolg.

Resümee

Mit Blick auf die weitere Internationalisierung des Eisenbahnmarktes, auch im Zusammenhang mit den wichtigen Zukunftsaufgaben im Bereich der Mobilität, ist zu erwarten, dass die interkulturelle Zusammenarbeit eine zentrale Rolle einnimmt. Erfahrungen aus der Beschaffung von Eisenbahnfahrzeugen haben gezeigt, dass ein nicht ausgependelter Umgang mit kulturellen Unterschieden zusätzlichen Schwergang sowie Verzögerungen auf den unterschiedlichsten Arbeitsebenen über die gesamte Projektlaufzeit verursachen kann.

Im Ausblick erscheint eine proaktive Auseinandersetzung mit kulturellen Unterschieden in internationalen Projekten, nicht nur auf Topmanagement-Niveau, sondern bei allen handelnden Personen, den dafür notwendigen Aufwand zu rechtfertigen.

Quellen und Anmerkungen

[1] Germ, Johannes (2006): Was ist Kultur? Definition und Grundlagen des Kulturbegriffes. GRIN Verlag, München.
[2] Business-Wissen (2019): International verhandeln. B-Wise, Karlsruhe.
[3] Metzger, Alexandra (2019): Internationale Verhandlungen – das kulturelle Profil des Verhandlungspartners kennen. Online unter:
www.friedergamm.de/­internationale-verhandlungen
[4] Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (2011): Handbuch Eisenbahnfahrzeuge. Hausdruckerei, Berlin.
[5] Datenermittlung mittels Fragebogen, bei einer Grundgesamtheit von 11 Teilnehmern.
[6] Quelle siehe [4] [7] Europaweite Ausschreibungen von den durch die Bundesländer bestimmten Aufgabenträgern.
[8] Verfahren mit Teilnahme der DB Regio AG von 2010 bis 2019.
[9] Quelle siehe [4] [10] Heinrich, Ingo (2017): Planbarer Umgang mit der außerplanmäßigen Instandhaltung. Springer Gabler Verlag, Wiesbaden.

 


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