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Strategie

Weiterentwicklung des Bahnbetriebs für eine starke Schiene

ICE 3 bei der Einfahrt in den Hbf Nürnberg
Foto: DB AG/Pablo Castagnola

Die Dachstrategie „Starke Schiene“ hilft unserem Land, entscheidende Herausforderungen zu meistern. Deutschland wird seine Klimaziele nur erreichen, wenn es im kommenden Jahrzehnt gelingt, massiv Verkehr auf die Schiene zu verlagern. Und das Land wird nur dann weiterhin wirtschaftlich erfolgreich sein, wenn Menschen und Güter mobil bleiben, statt immer häufiger im Stau zu stehen. Die Deutsche Bahn stellt sich dieser Verantwortung, die gleichzeitig eine große Chance für das Unternehmen ist. Wir als Betrieb der Deutschen Bahn bei der DB Netz AG werden ebenfalls einen wesentlichen Beitrag zum Erreichen dieser Ziele leisten. Denn der Betrieb ist das Herz einer starken Bahn.

Für die „Starke Schiene“ sind drei Ausbaufelder mit 15 Ausbausteinen definiert, um die Bahn robuster, schlagkräftiger und moderner zu machen. Für uns im Betrieb ist der Ausbaustein „Digitale Schiene Deutschland“ ein ganz wesentlicher Anker. Selbstverständlich zahlen wir auch auf weitere Ausbausteine ein, wie „Verantwortung im Verbund“, „stabile Prozesse“ und die „15 Ausbausteine der Mitarbeiter“.

Modernisierungsrückstand  des Bahnsystems

Für alle Ausbausteine gilt, dass die eisenbahnbetrieblichen Grundsätze weiter die Basis bilden. Seit es die Eisenbahn gibt, erlaubt das spurgebundene System den verlässlichen Transport von Personen und Gütern mit den jeweils möglichen hohen Geschwindigkeiten. In keinem der anderen Transportsysteme zu Land, Wasser oder in der Luft können vergleichbar große Massen mit entsprechend hohen Geschwindigkeiten befördert werden.

Dieser Vorteil unseres Systems Eisenbahn gewinnt anhand der aktuellen, sehr existentiellen Diskussionen über den Klimawandel und der Notwendigkeit, Energie und CO2 einzusparen, wieder neue, zusätzliche Bedeutung. Gleichzeitig ist uns bislang eine gesunde Modernisierung des Bahnsystems nicht gelungen. So besitzen von allen besetzten Stellwerken noch 38 Prozent eine mechanische oder elektromechanische Bauform. Also solche Bauformen, die es schon im 19. Jahrhundert oder um 1920 bis 1930 gab. Erst 15 Prozent der Stellwerke sind elektronischer Bauform. Und das erste digitale Stellwerk aus der Vorserie wird voraussichtlich Ende 2019 in den Betrieb gehen.

Ähnlich gespreizt sieht es bei der Signaltechnik aus. Neben dem modernen European Train Control System (ETCS), bei dem die Signale über Funk auf den Führerstand des Triebfahrzeugs übertragen werden, sind noch die verschiedensten Bauformen wie Licht- oder Formsignale an den Strecken im Einsatz, die es teilweise bereits ab Beginn des 20. Jahrhunderts gab. Dieser Rückstand in der Modernisierung verursacht zum einen erhöhte Kosten und Ausfallraten, zum anderen bedeutet er für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Betrieb eine stetig wachsende Komplexität, weil immer mehr Techniken und Systeme zu beherrschen sind.

Die „Digitale Schiene Deutschland“ ist hier ein Glücksgriff: Sie schafft den Handlungsspielraum, das System zu vereinfachen, Komplexität abzubauen, Anlagen und Verfahren zu standardisieren und so auch die Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems zu erhöhen.

Zielbild Betrieb

Die Digitalisierung der Schiene setzt sich nicht nur aus dem Rollout von ETCS und digitalen Stellwerken zusammen. Sie erfordert auch eine Weiterentwicklung unserer betrieblichen Grundlagen und die Definition eines Zielbilds für den Betrieb. Genau hier sind wir aus dem Bereich Betrieb gefordert, mit den gesammelten Erfahrungen für eine Weiterentwicklung der Verfahren zu sorgen, ohne die Sicherheit und Verlässlichkeit unseres Bahnsystems in Frage zu stellen.

Die seit Jahrzehnten eingeführten Bestandteile unseres Betriebs müssen wir auf ihre Grundsätze zurückführen, um daraus ein modernes Zielbild abzuleiten. Für uns alle ist es selbstverständlich, im Bahnbetrieb zum Beispiel zwischen Bahnhof und freier Strecke oder Rangieren und Züge fahren zu unterscheiden. Zudem haben wir definierte Rollen mit definierten Qualifikationen und Kompetenzen. Für die Betriebsmitarbeiter mussten im Laufe der Zeit immer mehr Regeln definiert werden, um den Betrieb mit immer neuen Techniken sowohl sicher als auch flüssig durchführen zu können.

Betriebliche Grundsätze

Nun stehen wir an dem Punkt, auf die Grundsätze hinter diesen ganzen Vorgaben zu schauen, um nach vorne gerichtet einen sicheren wie effizienten, modernen Betrieb zu gestalten. Die fünf Schutzziele eines Bahnbetriebes gelten dazu unstrittig fort:

  • Schutz vor Gegenfahrt
  • Schutz vor Folgefahrt
  • Schutz gegen Umstellen der Fahrwegelemente unter der Fahrt
  • Schutz gegen Flankenfahrt
  • Schutz gegen zu hohe Geschwindigkeit

In der Gründerzeit des Bahnbetriebes konnten diese Ziele nur mit den damals zur Verfügung stehenden Mitteln umgesetzt werden, wie zum Beispiel fester Blockabstand, Deckung durch ortsfeste Signale oder Flankenschutz durch Verriegeln. Für einen flüssigen Betrieb musste zwischen Rangier- und Zugfahrten unterschieden werden.

Sobald moderne Systeme eine Zugintegrität feststellen können, also verlässlich den Ort und die Vollständigkeit des Zuges angeben und die Geschwindigkeit kontinuierlich überwachen können, wird es möglich sein, die vorgenannten Schutzziele mit einem geringeren Verbrauch an Kapazität zu realisieren. Denn das Fahren in festen Blockabständen ist nichts anderes als Kapazität zu „verschwenden“, weil man mit der nächsten Fahrt warten muss, bis die erste Fahrt den gesamten räumlich festen Block geräumt hat. „Auf Sicht“ wird der Eisenbahnverkehr wegen der hohen Massen und langen Anhaltewege auch weiterhin nicht fahren.

Reduzierung von Komplexität

Wenn jedoch die Zugintegrität kontinuierlich feststellbar ist, also bekannt ist, dass eine Fahrt vollständig die gestarteten Fahrzeuge umfasst, dann wird eine deutlich geringere Zugfolgezeit möglich sein. Das wird die im Rahmen der „Starken Schiene“ erforderliche Kapazitätserhöhung fördern. Dann ist es allein auch im Sinne der Komplexität nicht mehr erforderlich, bei solchen gesteuerten Fahrten zwischen Rangier- und Zugfahrten zu unterscheiden. Es genügt, Fahrten zu definieren. Und so wird es auch nicht mehr nötig sein, zwischen Bahnhof und freier Strecke zu unterscheiden.

Grafik
Abbildung 1: Betriebssteuerungsstrategie (Quelle: DB Netz AG)

Dies mag nach einer Revolution klingen. Sinn ist es, die betrieblichen Regeln, derer es weiter bedarf, möglichst zu vereinfachen, um sie besser beherrschen zu können. Diese Veränderungen müssen sich natürlich weiter an den nationalen und europäischen gesetzlichen Vorgaben orientieren, wie die der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO) oder den Technischen Spezifikationen Interoperabilität (TSI).

Gerade die TSI mit Grundsätzen für den Bahnbetrieb sind derzeit aktualisiert worden. Das ist jedoch kein Widerspruch zur Notwendigkeit eines betrieblichen Zielbildes, sondern bedeutet nur, dass die Entwicklungen im Bahnsektor mit allen Beteiligten aktiv abgestimmt werden müssen. Die Eckpfeiler des betrieblichen Zielbildes bestimmen dann ein dazu gehörendes technisches Zielbild. Ebenso muss entsprechend das betriebliche Regelwerk weiter entwickelt werden. Dabei besteht die große Chance, zu einer einfacheren Struktur des Regelwerks zu kommen, das für die Menschen anwendbar ist.

Das betriebliche Zielbild soll mit Experten aus den verschiedensten Disziplinen bis Jahresende 2019 ent­wickelt werden. Bei der Weiterentwicklung des Betriebs stehen wir jedoch nicht ganz am Anfang. Wesentliche Schritte zur Weiterentwicklung und auch Digitalisierung im Bahnbetrieb sind bereits in Ausgestaltung.

PRISMA

Die Dispositionsverfahren in den Betriebszentralen werden im Rahmen des Programms PRISMA (Projekt Re-Design Informations-Systeme Betrieb und Modernisierung der Architektur) seit mehreren Jahren auf eine neue, moderne IT-Basis gestellt und werden das künftige Rückgrat für die Digitalisierung darstellen. Neben einem Dispositionskernsystem auf aktueller Architektur werden für die Anwender Standardbediensysteme eingeführt und die verschiedensten verbundenen IT-Anwendungen im Umfeld der Betriebszentralen modernisiert. Die Plattformstufe soll ab dem 1. Quartal 2022 bundesweit in Produktion gehen.

Modernisierung Fahrdienstleiter-Arbeitsplatz

Die wesentliche Vorleistung für die Modernisierung des Arbeitsplatzes der Fahrdienstleiter besteht im Rahmen des Projektes „Digitale Erreichbarkeit Stellwerke“ darin, dass alle besetzten Stellwerke mit einer IP-Adresse ausgerüstet werden und sogenannte Eingabe- und Ausgabe-Stationen (EAS) erhalten. Diese sind PC, die an das Leitsystem der Betriebszentralen angeschlossen sind und so den Informationsaustausch zwischen Disposition und Fahrdienst fördern.

Grafik im Comicform
Abbildung 2: Arbeitsplatz Fahrdienstleiter (Quelle: DB Netz AG)

Eine erste arbeitserleichternde Anwendung wird die sogenannte „Fplo-Datenbank“ sein. Mit ihr werden Fahrplananordnungen (Fplo), die bislang auf den Stellwerken noch auszudrucken, manuell vom Fahrdienstleiter auszuwerten und in die „Anordnung über den Zugverkehr (Ano Z)“ zu übertragen sind, digital verarbeitet und dem Fahrdienstleiter zur täglichen Übersicht automatisch bereitgestellt. Damit wird ein seit gut 40 Jahren unverändert bestehender Prozess vereinfacht. So einfach diese Lösung erscheint, so mühselig ist sie gleichwohl in der Umsetzung, bis sie auf allen relevanten Stellwerken auch wirklich funktioniert. Viele kleine Hürden sind zu überwinden, so dass dieses Projekt nach einigem Zeitverzug im ersten Quartal 2020 nun zum erfolgreichen Abschluss geführt werden soll.

Produktionsmodell und Algorithmus für Betriebssteuerung

Ein großer Schritt in Richtung Zukunft des Betriebs wird mit dem Produktionsmodell und mit Algorithmen für die Betriebssteuerung angestrebt. Auch hier gibt es bereits umfangreiche Vorarbeiten.

Eine erste konkrete produktive Anwendung im Rahmen der vorhandenen Dispositionssysteme ist die Zuglaufregelung Grüne Funktion. Den Eisenbahnverkehrsunternehmen, die die Voraussetzungen für eine digitale Anzeige auf den Führerständen erfüllen, aktuell mit dem elektronischen Buchfahrplan (EBuLa), werden Fahrempfehlungen auf Basis der aktuellen Betriebslage errechnet und zugestellt. So erhält der Triebfahrzeugführer zum Beispiel die Empfehlung, für eine bestimmte Dauer langsamer zu fahren, um nicht durch einen vorausfahrenden Zug gestutzt zu werden. Dies ist der erste Schritt in die Automatisierung des Fahrbetriebs.

Im nächsten Schritt wird aktuell angestrebt, in einem eigenen Modell den Disponenten in den sogenannten „PlanKorridoren“ (vier stark ausgelastete Netzabschnitte), Empfehlungen für Dispositionsentscheidungen zu erarbeiten, die sie dann anwenden können. Sobald in den Betriebszentralen das neue Dispositionssystem aus dem Programm PRISMA ausgerollt und alle Fahrdienstleiter angeschlossen sind, besteht die architektonische Voraussetzung, solche Algorithmen im Sinne der starken Schiene weiter auszubauen.

Gleichwohl muss man bei solchen Ansätzen nicht immer nur darauf warten, bis „große“ IT-Anwendungen im Bereich modernisiert sind. Viele unterstützende Verfahren können auch schneller erarbeitet und in die Anwendung gebracht werden. Im Betrieb ist dafür die „Anwendungsfamilie“ Web4BPA ein hervorragendes Beispiel. In kürzester Zeit wurden IT-Anwendungen geschaffen, um zum Beispiel Performancedialoge zu gestalten, alle relevanten Betriebs-Qualitätsdaten für Auswertungen aus einer Quelle zur Verfügung zu stellen oder jederzeit die Online-Information über die Betriebslage zu ermöglichen.

Infrastrukturdaten

Für die digitale Automatisierung ist die Abbildung unserer Infrastruktur eine entscheidende Basis. Dazu wurde im Rahmen von Zukunft Bahn ein umfangreiches IT-Projekt gestartet, um die bestehenden IT-Systeme der betrieblichen Infrastrukturdatenhaltung speziell für eine automatische Fahrplankonstruktion – neXt – zu erweitern. Dieses IT-Projekt hat seine Ziele in 2019 erfolgreich erreicht. Im nächsten Schritt wird es um eine zweite Stufe erweitert, um den Digitalisierungsgrad von der Infrastrukturdatenanmeldung über die Fahrplanung bis zur Betriebsdurchführung zu erhöhen und die Datenerhebung und -pflege zu vereinfachen.

Betriebssteuerungsstrategie

Neben den Entwicklungen von Regelwerk, Algorithmen und IT (Verfahren und Infrastruktur) ist für einen zukunftsgerichteten Betrieb auch die organisatorische Struktur und deren Umsetzung entscheidend. Die bisherige Strategie, im hoch ausgelasteten Netz die fahrdienstlichen und dispositiven Tätigkeiten in acht Betriebszentralen zu konzentrieren, wurde bereits 2017 zur Betriebssteuerungsstrategie weiterentwickelt. Aufgrund verschiedener Prämissen wie demografischer Wandel, Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder Digitalisierung der Leit- und Sicherungstechnik wurde ein Konzept erarbeitet, um die fahrdienstlichen Tätigkeiten in 97 Steuerzentralen des Fern- und Ballungsnetzes sowie in 28 regionale Bedienzentralen des Regionalnetzes zu verteilen.

Dieses Standortkonzept wird aktuell im Rahmen der „Digitalen Schiene Deutschland“ konkret verfolgt und es ist beabsichtigt, zusammen mit einem renommierten Architekten ein Standard für die Gestaltung der Arbeitsumgebung zu erarbeiten. Wesentliche Basis ist hierfür der design-integrierte-Bedienplatz, der für eine standardisierte Bedienung der künftigen digitalen Stellwerke sorgen soll.

Piloten hierzu befinden sich unter anderem in Göttingen in Umsetzung. Dieser design-integrierte-Bedienplatz für den Fahrdienstleiter und der Standardarbeitsplatz für den Disponenten werden synchronisiert, da sie zum Teil auf vergleichbare Anwendungen zurückgreifen, wie den Streckenspiegel, also die Darstellung der Gleisbelegung mit Zügen.

Qualifizierung und Einsatz von Simulationen

Mindestens genauso wichtig wie die vorgenannten Entwicklungen ist es, auch die Qualifizierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu modernisieren und mit neuen Medien an geeigneter Stelle zu unterstützen.

Simulationsverfahren für Spurplanstellwerke und natürlich auch elektronische Stellwerke sind bereits seit Jahren eingeführt. Ungeachtet der laufenden Digitalisierung wird es noch längere Zeit erforderlich sein, auch verlässlich mechanische und elektromechanische Stellwerke zu bedienen. Dazu werden aktuell Simulationsverfahren sowohl für eine Virtual Reality-Brille wie auch für eine PC-Anwendung erarbeitet, die bis Ende des Jahres beziehungsweise bis zum Sommer 2020 zum Einsatz kommen können (siehe dazu auch den Beitrag ab S. 44 in dieser Ausgabe). Diese Anwendungen sind geeignet, um sie in die Qualifizierungskonzepte einzubinden. Für die Trainer werden die verschiedenen Simulationsverfahren im nächsten Schritt anwender­gerecht in eine Plattform integriert.

Roadmap für den Wandel

Die in diesem Beitrag genannten Beispiele sollen die Roadmap des Betriebs für die „Starke Schiene“ verdeutlichen: Taktgeber sind die Bausteine der Ausbaufelder, insbesondere die „Digitale Schiene Deutschland“. Mit dem Programm PRISMA und dem Projekt „Digitale Erreichbarkeit Stellwerke“ schaffen wir die IT-Basis für eine weitergehende Automatisierung. Mit der Betriebssteuerungsstrategie wird die bauliche Infrastruktur für die Steuerung modernisiert. Durch das Produktionsmodell und Algorithmen werden die Voraussetzungen für die Digitalisierung geschaffen. Mit einer Qualifizierung, die den modernen Erkenntnissen entspricht und geeignete Verfahren nutzt, sorgen wir dafür, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit den veränderten Anforderungen gut umgehen können. Das betriebliche Regelwerk wird vereinfacht. Der alles umspannende Rahmen ist das Zielbild Betrieb.

Und schließlich müssen wir beachten, dass es sich um einen „Change-Prozess“ handelt: Auch wenn viele bestehende Grundsätze des Bahnbetriebs weiter gelten werden, stehen große Veränderungen bevor, bei denen wir die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mitnehmen wollen und müssen.


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