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Koalitionsvertrag und SPNV

Schon heute planen für eine Verdoppelung der Fahrgastzahlen

Bahnsteig mit Treppenzugang und Regionalzug
Foto: DB AG/Oliver Lange

In dieser Legislaturperiode hat sich die Bundesregierung zum Ziel gesetzt, mehr Verkehr auf die Schiene zu verlagern. Die im Vorfeld der Bundestagswahlen von den Bahnverbänden vorgebrachten Forderungen nach Einführung des Deutschland-Takts, Halbierung der Trassenpreise und Förderung von Innovationen sind im Koalitionsvertrag aufgegriffen worden. Erste Maßnahmen wurden bereits umgesetzt. Der Weg bis zum Erreichen des von der Bundesregierung formulierten Ziels einer Verdoppelung der Fahrgastzahlen bis 2030 ist aber noch weit.

Das Schienennetz muss modernisiert und ausgebaut, die Knoten müssen ertüchtigt und die Leistungsfähigkeit der Bahnhöfe angepasst werden, so dass die für eine Ausweitung des Angebots auf der Schiene notwendigen Kapazitäten zur Verfügung stehen. Gleichzeitig ist es notwendig, die Trassenpreise nicht nur für den Schienengüterverkehr, sondern auch für den Schienenpersonenverkehr zu senken.

Einführung des Deutschland-Takts

Die zentrale Forderung der Branche nach der Einführung des Deutschland-Takts wurde von der Politik aufgegriffen und findet nun auch ihre Verankerung in entsprechenden Maßnahmen im Bundesverkehrswegeplan (BVWP). Es ist gut, wenn jetzt der Fokus auf die Umsetzung des Deutschland-Takts gelegt wird und nicht auf die Frage, warum der Deutschland-Takt erst jetzt kommt.

Dazu braucht es sehr schnell eine Diskussion in regionalen Runden zu den offenen Punkten aus dem im Oktober 2018 vorgestellten Gutachten zum „Zielfahrplan Deutschland-Takt“, um zu Konkretisierungen für den Zielfahrplan zu kommen. Dabei ist es aus Sicht des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV) vor allem wichtig, dass der Deutschland-Takt nicht nur als Taktverkehr des Schienenpersonenfernverkehrs (SPFV) angesehen wird. Der Deutschland-Takt ist viel mehr: die Vertaktung aller Linien des Nah- und Fernverkehrs untereinander an den Knotenbahnhöfen. Dafür ist vor allem der Ausbau der Kapazitäten in den Knoten erforderlich.

Hierfür wird es notwendig sein, dass der Bund auch über 2020 hinaus in nennenswertem Umfang zusätzliche Mittel in den Ausbau des Schienennetzes investiert. Denn erst mit einem durchgängig vertakteten und verlässlichen Umstieg in den Knotenbahnhöfen kann die Attraktivität des Schienenverkehrs für die Fahrgäste wieder deutlich gesteigert werden.

„Nur wenn die Branche gemeinsam vorangeht, kommt der Wow-Effekt auf der Schiene

Halbierung der Trassenpreise

Eine Verdoppelung der Fahrgastzahlen im Schienenverkehr kann nur über den SPNV erreicht werden: Auf ihn entfallen fast 95 Prozent aller Fahrgäste des Schienenverkehrs und zwei Drittel der gefahrenen Trassenkilometer; rund 85 Prozent aller Stationshalte werden für den SPNV bestellt. Eine Halbierung der Trassenpreise auch für den SPNV ist daher wesentlich, um mehr Fahrgäste in die Züge zu bringen. Denn nur unter dieser Voraussetzung können durch die Aufgabenträger des SPNV Mehrverkehre in nennenswertem Umfang bestellt werden.

Die aktuell erfolgte annähernde Halbierung der Trassenpreise für den Schienengüterverkehr (SGV) ist ein erster wichtiger Schritt für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Schiene – allerdings derzeit nur im Bereich des Gütertransports. Jetzt gilt es sicherzustellen, dass es dadurch zu keinem Verdrängungswettbewerb zwischen SGV und SPNV kommt. Denn dies würde dazu führen, dass für den SPNV geringere Schienenkapazitäten als heute zur Verfügung stehen und die Fahrgastzahlen sogar abnehmen würden.

Daher ist es aus Sicht des SPNV notwendig, flankierend zu einer Senkung der Trassenpreise geeignete Maßnahmen zu ergreifen, die dem vertakteten SPNV, der aufgrund der Fahrgastströme nicht auf eine andere Streckenführung ausweichen kann, auch die entsprechenden Trassen zur Verfügung zu stellen. Nur mit ausreichend bestellbaren Trassen kann insbesondere in den Ballungsräumen das für eine Verdoppelung der Fahrgastzahlen notwendige Angebot im vertakteten SPNV sichergestellt werden.

Fehlende Kapazitäten im Schienennetz

Und damit kommt man zu der nächsten „Baustelle“ für mehr Schienenverkehr: Selbst wenn Besteller und Aufgabenträger dank größerer finanzieller Spielräume mehr SPNV-Leistungen bestellen könnten, würden ihnen durch die derzeit auf dem Schienennetz verfügbaren Kapazitäten schnell deutliche Grenzen gesetzt. Das gilt insbesondere in den Ballungsräumen und auf Strecken, wie zum Beispiel auf der linken Rheinseite, die schon heute überlastet sind. Der Ausbau des Schienennetzes ist daher Grundvoraussetzung für das Erreichen des Ziels, die Zahl der Bahnkundinnen und Kunden bis zum Jahr 2030 zu verdoppeln.

Darüber hinaus ist es notwendig, in die Modernisierung des Schienennetzes zu investieren. Eine konsequente und verbindliche Planung der notwendigen Bau- und Ertüchtigungsmaßnahmen (Elektrifizierung, ETCS/NeuPro) sind der Schlüssel dafür.

Elektrifizierung

Im politischen Raum wird oft darauf hingewiesen, dass bereits 90 Prozent der Verkehrsleistung im Personen- und Güterverkehr elektrisch erfolgt. Das ist zwar einerseits richtig, gemessen in Personen- beziehungsweise Tonnenkilometer, sagt aber zumindest im SPNV letztendlich nichts über die Intensität der dennoch anfallenden Nutzung von fossilen Brennstoffen aus. Aktuell werden wegen fehlender flächendeckender Elektrifizierung im SPNV noch 36 Prozent aller Zugkilometer mit Dieselantrieb gefahren. Das entspricht inklusive Leerfahrten zirka 250 Millionen Zugkilometern im Jahr.

Zur Erreichung der Klimaschutzziele ist es daher von besonderer Bedeutung, gerade auch den ländlichen Raum zu „elektrisieren“. Daher müssen insbesondere für den SPNV bei der Umsetzung der im Koalitionsvertrag für 2025 als Zielmarke genannten Elektrifizierung von 70 Prozent der Schienenstrecken neben der sicher wichtigen linienweisen Elektrifizierung auch Mittel für die Schaffung von „Elektrifizierungsinseln“ vorgesehen werden. Denn die durchschnittliche Dieselstrecke in Deutschland ist rund 70 Kilometer (km) lang. Die Reichweiten von Batteriefahrzeugen für die Überbrückung von nicht-elektrifizierten Streckenabschnitten liegen bereits heute bei gesicherten 40 km.

Mit dem Schaffen von „Elektrifizierungsinseln“ könnten also die gleichen Effekte wie bei einer Vollelektrifizierung deutlich kostengünstiger erreicht werden. Zudem würden dadurch relativ schnell hohe Elektrifizierungsgrade geschaffen und so deutlich mehr (Diesel-)Zugkilometer als bei einer durchgehenden Elektrifizierung zu denselben Kosten durch alternative Antriebe ersetzt werden können.

Um bereits heute die richtigen Weichen für die Zukunft stellen zu können, ist es zudem zwingend notwendig, einen deutschlandweiten, verbindlichen Elektrifizierungsplan zu erstellen, aus dem im Umkehrschluss hervorgeht, welche Strecken auch langfristig nicht elektrifiziert werden. Denn erst wenn dieses klar ist, können die Aufgabenträger eine umfassende Einführungsstrategie von alternativen Antrieben beziehungsweise Hybridfahrzeugen erstellen.

European Train Control System

Um die Bahn auch wirklich zum Verkehrsmittel des 21. Jahrhunderts werden zu lassen, ist neben der Elektrifizierung von Strecken die zügige und vor allem flächendeckende Einführung des European Train Control Systems (ETCS) für die Modernisierung und Erhöhung der Kapazitäten des Schienennetzes von wesentlicher Bedeutung. Ein vom Bund in Auftrag gegebenes Gutachten bestätigt diesen Ansatz und kommt zu dem Ergebnis, dass nur so ein hoher volkswirtschaftlicher Nutzen erzielt werden kann.

Die Umrüstung auf ETCS ist kein Selbstzweck, sondern soll auf bestehender Infrastruktur nach den Aussagen des Infrastrukturvorstands der DB AG, Ronald Pofalla, bis zu 20 Prozent mehr Kapazität bringen. Zusätzliche Kapazität, die der Schienenverkehr dringend braucht, um mehr Leistungen bestellen zu können.

Dazu ist aber neben der Ausstattung der Strecken und Stellwerke mit neuer (digitaler) Technik auch die Ausrüstung der Fahrzeuge mit sogenannten On-Board-Units notwendig. Dabei handelt es sich um Stellwerkskomponenten, die bisher zur stationären Infrastruktur gehören und die nunmehr in die Fahrzeuge verlagert werden. Diese „rollende Infrastruktur“ kommuniziert in Zukunft mit Komponenten an der Strecke und teilt ihnen zum Beispiel mit, wo ein Fahrzeug sich befindet und wann der dahinter liegende Streckenabschnitt für den Folgezug freigegeben werden kann.

Die Kosten für die Aus- und Nachrüstung von Fahrzeugen mit diesen On-Board-Units sind als Teil der Ertüchtigung der Infrastruktur zu betrachten und dürfen nach Auffassung der Aufgabenträger nicht zu Lasten der Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) beziehungsweise der Besteller von Nahverkehrsleistungen gehen, sondern müssen von der DB Netz AG beziehungsweise dem Bund getragen werden.

Zudem ist eine frühzeitige und genaue Planung für die Umrüstung notwendig, weil schon jetzt klar ist, dass die Nachrüstung der vorhandenen Fahrzeuge Jahre in Anspruch nehmen wird. Hintergrund hierfür ist, dass im laufenden Betrieb nur jeweils geringe Mengen an Fahrzeugen aus der Reserve für eine mehrere Tage dauernde Umrüstung auf ETCS bereitgestellt werden können.

Viele Reisende an einem Bahnsteig
Bahnsteig im Münchner Hauptbahnhof: Viele Verkehrsstationen in Ballungszentren sind am Limit und müssen für den Zuwachs an Reisenden ertüchtigt werden (Foto: DB AG/Uwe Miethe)

Fehlende Leistungsfähigkeit der Verkehrsstationen

So wichtig es ist, die Strecken für den Schienenverkehr des 21. Jahrhunderts zu ertüchtigen: Man darf nicht übersehen, die Bahnhöfe mit ausreichenden räumlichen Reserven auszustatten, um das erwartete Mehr an Fahrgästen aufnehmen zu können. Die Realität sieht aber heute oft völlig anders aus: Viele Bahnhöfe und Stationen sind schon heute überlastet. Dies gilt vor allem in den Ballungsräumen, wo Durchgänge, Treppen und Bahnsteige zu Spitzenzeiten die Zahl der Reisenden oft kaum fassen können.

Um die Stationen fit für die Zukunft zu machen, müssen die Lauf- und Umsteigewege der Fahrgäste in den stark belasteten Verkehrsstationen genau analysiert und auf dieser Grundlage sukzessive Planungen für Um- und Ausbauten mit deutlich mehr und breiteren Treppen und Unterführungen vorbereitet werden. Und zwar so, dass Reserven für die Zukunft vorhanden sind. Dabei ist auch darauf zu achten, Fahrkarten-, Snack- und Getränkeautomaten, Kioske und Informationstafeln so aufzustellen, dass der Weg zum Zug nicht behindert wird. Gleichzeitig sollten die notwendigen Aufstellflächen auf dem Bahnsteig erweitert werden.

Denn spätestens nach Einführung des Deutschland-Takts werden die Fahrgäste verstärkt kurze und ausreichend dimensionierte Wege benötigen, damit ein zügiges Umsteigen ohne Hindernisse möglich ist. Insbesondere die Knotenbahnhöfe müssen perfekte Voraussetzungen für einen reibungslosen Bahnverkehr bieten. Sonst wird der Deutschland-Takt trotz eines dafür ausgebauten Schienennetzes aufgrund von fehlenden Kapazitäten in den Stationen unattraktiv.

Fazit

Angesichts der Vielzahl an Themen stehen die Branche vor einer enormen Herausforderung. Nur wenn alle Akteure umgehend, mit voller Kraft und hohem Mitteleinsatz bei den vorstehenden „Baustellen“ gemeinsam in die gleiche Richtung arbeiten, kann das System Schiene so attraktiv gestaltet werden, dass der von Verkehrsminister Scheuer eingebrachte „Wow-Effekt“ auch wirklich eintritt. Dies ist die Grundlage für eine Verdoppelung der Fahrgastzahlen und dafür, dass die umweltfreundliche Schiene ihren Beitrag zum Erreichen der Umweltziele der Bundesregierung leisten kann.


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